Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 5. (1952)
HAUPTMANN, Ferdinand: Österreich-Ungarns Werben um Serbien 1878–1881
Österreich-Ungarns Werben um Serbien 1878—1881 203 „unsere Mission im Osten dadurch zu documentiren, daß wir die Wohlfahrt der unter Österreichs Verwaltung gelangten Volksstämme mit voller Kraft anstreben“ 69). Haymerle schien unter solchen Umständen jede neue Vereinbarung mit Rußland über den Balkan äußerst gefährlich, da sie den ganzen österreichisch-russischen Gegensatz enthüllen oder mindestens neue Probleme aufwerfen und neue Zugeständnisse erzwingen würde, die man nur schwer billigen und noch schwerer sich bezahlen lassen konnte, ohne dadurch das eigene nationale Problem noch mehr zu verwirren 70). Das Beste schien daher damals, an diese dornigen Fragen lieber nicht zu rühren, sondern sie für eine Zeit wenigstens ruhen zu lassen. Durch Verhandlungen mit Rußland würden sie nicht der Lösung nähergebracht, sondern umgekehrt würden „solche Verständigungsversuche viel eher zur Entzweiung als zur Erhaltung des Friedens dienen“ 71). Haymerles Geneigtheit zu Vereinbarungen mit Rußland nur von Fall zu Fall über unaufschiebbare Spezialfragen ergab sich daraus von selbst, und Bismarck und seine Umgebung hatten Unrecht, wenn sie darin nur die Inkonsequenzen eines furchtsamen Mannes sahen72). Kálnoky hatte in seinem eingangs erwähnten Schreiben auf die Notwendigkeit hingewiesen, daß Österreich, noch bevor die Balkanfrage wieder ins Rollen käme, ruhig und gründlich die Richtlinien seiner Politik festlege, und zwar auf Grund der doppelten Frage: „Welche Ziele müssen wir fernerhin auf der Balkanhalbinsel anstreben und über welche Mittel verfügen wir zu diesem Ende?“ Er bezweifelte, daß eine Stärkung Serbiens und Rumäniens Österreich eine genügende Entschädigung für die Schaffung eines Großbulgariens sein würde; die bisherige Haltung dieser Länder in den Handelsvertragsverhandlungen etc. machte ihn mißtrauisch. „Ich kann nicht umhin“, meinte er, „die wohlüberdachte Überzeugung auszusprechen, daß das Pivot unserer Machtstellung gegen Südosten in Belgrad liegt. Solange wir nicht in direkter oder indirekter Weise dort Fuß gefaßt haben werden, bleiben wir an der Donau, am Lim und selbst an der Save in einer steten Defension. Haben wir Serbien mit welch immer Mitteln unserem Einflüsse unterworfen, oder noch besser, sind wir die Herren in Serbien, dann erst können wir vollkommen beruhigt sein über den Besitz von Bosnien und Zubehör, über unseren Einfluß an der unteren Donau und auf Rumänien, dann erst hat unsere Machtsphäre auf der Balkanhalbinsel eine feste Basis, welche den großen Interessen unserer Monarchie entspricht und dann erst können wir mit einem Gefühl der Sicherheit der weiteren Entwicklung der Dinge im Orient ins Angesicht sehen ...“ 73). Am Ballhausplatz stimmte man mit solchen, schon mehrmals ausgedrückten Anschauungen vollkommen überein. „Nur selten sah ich“ —schreibt der Gehilfe des Außenministers, Kálley, an Kálnoky — „noch in so konziser Form die Nothwendigkeit einer zielbewußten und .aktiven Politik auf so überzeugende Art nachgewiesen wie in diesem Schriftstücke...“ 74).