Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 4. (1951)
GOLDINGER, Walter: Archivwissenschaftliche Literatur der Jahre 1948–1951
328 Literaturberichte geboren, aus altpreußischer Beamtenfamilie und mütterlicherseits aus einem Hugenottengeschlecht stammend, gerät der junge Gentz während seiner Königsberger Studienzeit in den Bann der Kantischen Ideen und ist trotz allen äußeren und inneren Wandlungen im Grunde bis an sein Lebensende Kantianer geblieben. Als solcher begrüßte er zunächst den Ausbruch der Französischen Revolution als den Beginn eines neuen Zeitalters der Vernunft. Bereits hier sind die fundamentalen Mängel des Werkes festzustellen: die präsentistische Grundhaltung, gepaart mit einem populärwissenschaftlichen Zug, führt das ganze Buch hindurch immer wieder zu handgreiflichen Anklängen an die jüngste Vergangenheit und damit zu bedenklichen Vereinfachungen und Verzerrungen historischer Kräfte und Ereignisse. So wird nicht nur die Revolution in Vergleich und Beziehung zu Vorgängen einer viel späteren Zeit gesetzt, sondern auch im Abschnitt über die Situation Europas vor der Revolution eine historische Erscheinung wie der aufgeklärte Absolutismus mit einigen billigen Sarkasmen abgetan. Die bald einsetzende radikale Entartung der neuen Bewegung und besonders der Einfluß Burkes, dessen Betrachtungen über die Französische Revolution Gentz ins Deutsche übersetzt, bewirken bei ihm bald eine, von M. psychologisch nicht gerade überzeugend dargestellte Wandlung seiner Haltung. Er nimmt nun tonangebend den publizistischen Kampf, dessen Bedeutung und Wirkungen in der öffentlichen Meinung Deutschlands von M. — wie übrigens auch von Sweet — nicht hinlänglich untersucht werden, gegen die junge Republik auf. Dabei gerät er, seit 1793 preußischer Kriegsrat, immer mehr in Gegensätze zu der mit dem Frieden von Basel beginnenden Neutralitätspolitik seiner Regierung und kehrt 1802 kurz entschlossen und unter Zurücklassung namhafter Schulden seinem Vaterland den Rücken und wird in den Dienst Österreichs genommen, das bereits bei früheren Anlässen seine publizistische Unterstützung schätzen gelernt hat. Auch hier ist wieder die simplifizierende Art zu vermerken, in der M. die Zustände des alten Reiches vor der Auflösung zeichnet. Bei der Schilderung der Lage in Österreich ist es eine starke Zumutung, auf S. 107 hören zu müssen, die Reform Josephs II. wäre, „wenn man so sagen darf“, ein Versuch der Protestantisierung gewesen. (M. darf nicht so sagen!) Da Österreich im Jahre vor seinem Übertritt mit Frankreich ebenfalls Frieden geschlossen hatte, sah sich Gentz neuerlich zur Untätigkeit verurteilt und wurde wegen seiner erbitterten Feindschaft gegen Bonaparte, die, auf persönlicher Überzeugung beruhend, von England mit erheblichen finanziellen Zuwendungen genährt wurde, in verschiedene Intrigen gegen die herrschende Friedenspartei verwickelt. Als sein Ruf nach einer großen europäischen Allianz von den Regierenden nicht oder zu spät gehört wurde, mußte er erleben, was er immer befürchtet hatte: es gelang dem Korsen, einen Gegner nach dem andern zu Boden zu werfen. Was M. an einer späteren Stelle des Buches (S. 213 ff.) über die zwangsläufige Entwicklung des Napoleonischen Imperialismus sagt, dürfte eine zu grobe Vereinfachung der Ansichten Deutschs, der im Literaturverzeichnis allerdings nicht auf- scheint, sein. Hier hätten die diesbezüglichen Ausführungen Lefebvres (Napoleon, Paris 1935) Berücksichtigung verdient. Zu den besten Stellen