Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 2. (1949)

GOLDINGER, Walter: Epochen des österreichischen Archivwesens

82 Archivberichte III: Erster österreichischer Archivtag Leben übertragen, liegen die Dinge gar nicht anders. Neben dem Haus­und Staatsarchiv, dem Briefgewölbe des Hauses Österreich, ranken sich um die einzelnen Zentralstellen Behördenarchive, die der laufenden Ver­waltung eingegliedert sind. Dieser Zustand ändert sich auch nach 1850 kaum. Wohl tritt der neue Staat mit seinem kraftvollen Lebensgefühl mit dem Projekt eines einheit­lichen Reichsarchivs hervor, das beide Zweige, aus denen sich das öster­reichische Archivwesen entwickelt hat, in sich begreifen sollte. Aus äußeren, mehr aber noch aus inneren Gründen, der Überspitzung zentralistischer Gedanken, ist der Plan gescheitert. Denn eines darf man nicht vergessen: Seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts hat sich in den Ländern das historische Leben immer stärker entwickelt und die Landesarchive waren dort, wo solche bestanden, in erster Linie Träger dieses Ideengutes. Damit kommt auch die wissenschaftliche Richtung, die Ausschöpfung der Archive für historische Quellenforschung immer stärker zur Geltung. Damit verbinden sich die Impulse, die von dem 1854 begründeten Institut für österreichische Geschichtsforschung ausgehen, in mehr als einer Richtung. Preilich auch mit der gefährlichen Tendenz zu einer gewissen Einseitigkeit. Ein Querschnitt, der uns den Zustand des österreichischen Archivwesens um die Jahrhundertwende erschließen soll, zeigt nämlich einen unverkenn­baren Aufschwung, die Früchte der von Helfert eingeleiteten Archivorgani­sation beginnen zu reifen, die Anschauungen, von denen sich die im k. k. Archivrat tonangebenden Professorenkreise leiten ließen, die die Archive nur als Rohstofflager für die Geschichtswissenschaft gelten lassen wollten, bargen aber manche Keime einer ungesunden Entwicklung in sich. Das hat schon Zahn, das älteste Mitglied des Instituts, das Archivar geworden war, beklagt und manche Gegensätze zwischen Oswald Redlich und dem großen Praktiker Michael Mayr leiten sich daher ab. Nach dem Ende der Donaumonarchie war Mayr berufen, nicht nur an die Spitze des Staates, sondern auch des österreichischen Archivwesens zu treten. Unter der Ungunst der Verhältnisse konnte damals nicht allzuviel erreicht werden. Noch immer fehlte es an einer einheitlichen Organisation des österreichischen Archivwesens oder doch zumindest an einem gemein­samen Dach für die Wiener Zentralarchive. Dieses wurde erst durch die Schaffung des Wiener Reichsarchivs nach dem Untergang Österreichs gebildet. Aber eines verdient festgehalten zu werden: Es wurde damit zum Unterschied von anderen Gebieten der öffent­lichen Verwaltung nicht fremdes Gedankengut einer eigenständigen Administration aufgepropft, sondern bloß die Summe aus jener Entwicklung gezogen, die die Wiener Archive bis dahin unter einer auf der Höhe ihrer Aufgaben stehenden geistigen Führung — es seien bloß die Namen Ludwig Bittner und Lothar Groß genannt — bis dahin genommen hatten. So kam es auch, daß das neuerstandene Österreich 1945 im Grunde genommen nur den Namen zu ändern brauchte und die Wiener Zentralarchive in dem Gesamtkörper des Österreichischen Staatsarchivs zusammenfassen konnte. Diese Herausmodellierung bestimmter Erscheinungsformen des Archiv­wesens in verschiedenen Epochen drängt gebieterisch die Frage auf: Wo stehen wir heute ?

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