Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 2. (1949)

Festfeier des Österreichischen Staatsarchivs aus Anlaß des 200jährigen Bestandes des Haus-, Hof- und Staatsarchivs am 21. und 22. September 1949

34 Archivberichte II: Festfeier des Staatsarchivs Doch über die unmittelbar praktischen Zwecke der Staatsverwaltung und der Rechtsprechung weit hinausgehend hat das Archiv die allergrößte ideelle Bedeutung für die Geschichtswissenschaft. Tief im Wesen der menschlichen Natur verwurzelt ist der unstillbare Drang nach Erkennt­nis und nach Erforschung der Wahrheit und der Wirklichkeit im Natur­geschehen und in der Welt des menschlichen Geistes. „Das eigentliche Studium der Menschheit aber ist“, wie Goethe einmal sagt, „der Mensch“, d. h. also die Erforschung des geschichtlichen Geschehens, des Werdeganges und der historischen Entwicklung des Menschengeschlechtes. Die am unmittelbarsten zu uns sprechenden Erkenntnisquellen der Menschheits­geschichte aber sind die schriftlich überlieferten Quellen. Unter diesen aber sind die Erzeugnisse der Geschichtsschreibung, die Annalen, die Chroniken, Biographien und die sonstigen darstellenden Geschichtswerke, infolge der Herkunft, der Erziehung und der weltanschaulichen und politischen Ein­stellung der Autoren selbst bei strengstem Wahrheitswillen notwendig subjektiv und persönlich gefärbt — der Inhalt der Archive, die Urkunden, die urkundlichen Bücher und die Akten, stellt sich aber dagegen als die weit­aus objektivste, verläßlichste und exakteste Geschichtsquelle schriftlicher Art dar. Daher bildet der Inhalt des Archivs die Grundlage aller Geschichts­forschung und aller wissenschaftlichen Geschichtsschreibung —• er ist der unendliche fruchtbare Urquell und Jungbrunnen aller wahren und exakten historischen Wissenschaft. Im besonderen aber machen die weltweiten Beziehungen des habs­burgischen Hauses und des alten österreichischen Staates das Haus-, Hof- und Staatsarchiv zu einem der inhalts- und umfangreichsten Geschichts­archive der ganzen Welt — man denke nur daran, daß im Reiche des Habs­burgers Karls V. die Sonne nicht unterging — und daß in den neuzeitlichen Jahrhunderten die Habsburger ununterbrochen die Krone des Heiligen Römischen Reiches trugen und Böhmen, Ungarn und Burgund, bzw. die Niederlande sowie große Teile von Deutschland und Italien, von Polen, Rumänien und Jugoslawien zu Österreich gehörten. So bewahrt das Haus-, Hof- und Staatsarchiv das sichere, jahrhunderte- und jahrtausendealte Wissen von der Vergangenheit Österreichs und Europas und bildet so das dauernde und unumstößliche Zeugnis und Denkmal der historischen Vergangenheit und des geschichtlichen Werdens von Volk und Land, Kirche und Staat, Familie und rechtlicher- und Einzelpersönlichkeit Österreichs und zum guten Teil auch des gesamten Abendlandes. Das Staatsarchiv bewahrt aber nicht nur die Geschichtsquellen auf, sondern stellt sie auch der wissenschaftlichen Benützung zur Ver­fügung. Zu einer Zeit, als einschließlich des Wiener Staatsarchivs alle großen Archive der Welt noch sehr schwer benützbar, ja teilweise nahezu unzugänglich waren, hat im Jahre 1868 der damalige Archivdirektor Alfred von Arneth das Haus-, Hof- und Staatsarchiv in großzügigster und liberalster Weise der allgemeinen wissenschaftlichen Einsichtnahme und Benützung erschlossen und ist damit für alle großen Archive vorbildlich geworden. Und man kann sagen, daß die Öffnung des Staatsarchivs einen Aufschwung nicht nur der österreichischen, sondern auch der europäischen Geschichts­wissenschaft bedeutet.

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