Komjáthy Miklós: Protokolle des Gemeinsamen Ministerrates der Österreichisch-Ungarischen Monarchie (1914–1918) (Magyar Országos Levéltár kiadványai, II. Forráskiadványok 10. Budapest, 1966)
Einleitung: Die Entstehung des gemeinsamen Ministerrates und seine Tätigkeit während des Weltkrieges
diesen hinweghelfende, also entscheidende Rolle spielen kann, möchte ich eine Episode erwähnen, die sich während des Weltkriegs nicht in der Monarchie abgespielt hat. Deutschland hatte bereits mobilisiert und die Streitkräfte waren bereits an der französischen Grenze aufmarschiert, als Grey, der englische Minister des Äußeren, dem Botschafter des Deutschen Reiches in London, Lichnowsky telefonisch mitteilte, solange die Deutschen Frankreich noch nicht angegriffen haben, sei nichts Entscheidendes geschehen. Der Botschafter hat — offenbar in seiner Nervosität — die Mitteilung mißverstanden und nach Berlin berichtet, Großbritannien werde — falls Deutschland nicht angreift — neutral bleiben. Kaiser Wilhelm, der ebenso wie sein Kanzler, Bethmann Hollweg, einen Krieg mit England auf jeden Fall vermeiden wollte, war über die Mitteilung hocherfreut. Er ließ sofort den Chef des Generalstabes, den General Moltke zu sich berufen und gab ihm die Weisung, die Mobilisierung sofort anzuhalten. Der General erlitt bei Erhalt dieses Befehles fast einen Nervenzusammenbruch, der Aufmarsch der deutschen Armee war ja nach den Aufmarschplänen bereits in vollem Gange. Moltke versuchte, den Kaiser zur Zurücknahme des Befehles zu bewegen. Der Mechanismus der Mobilmachung — setzte er dem Kaiser auseinander — sei einem äußerst präzisen Uhrwerk ähnlich, das, einmal in Gang gebracht, automatisch weitergehe. Das Räderwerk der Uhr zurückzudrehen sei einfach unmöglich. Wir wissen nicht, ob der Kaiser schließlich geneigt gewesen wäre, die Argumentation des verzweifelten Generals anzunehmen. Inzwischen traf nämlich die zweite Depesche Lichnowskys ein, aus der hervorging, daß der sich auf die Neutralität Großbritanniens beziehende Teil der ersten Depesche auf einem Mißverständnis beruhe, so daß zur Rücknahme des Mobilisierungsbefehls kein Grund mehr bestehe. 183 Der Mechanismus der Mobilmachung spielte im großen und ganzen auch im Leben der übrigen kriegführenden Staaten eine ähnliche Rolle. So ist z. B. bekannt, daß die allgemeine Mobilisierung in Rußland eben mit verkehrstechnischen Gesichtspunkten begründet wurde. 184 Politische und andere Gesichtspunkte, die die zaristische Regierung in diesem katastrophalen Moment zu erwägen hatte, mußten hinter dem technischen Gesichtspunkt zurücktreten. Zweifellos repräsentieren nicht alle Teile des Staatsapparates und nicht zu jeder Zeit ihrer Tätigkeit die schicksalwendende (oder einfach: geschichtliche) Rolle ihrer Amtsführungstechnik in so fast klassischer Form wie die von den Generalstäben ausgearbeiteten Mobilmachungspläne bei Ausbruch des ersten Weltkrieges und der auf Grund dieser in Gang gesetzte Mechanismus. Doch meine ich, daß dieses scharf exponierte Beispiel am klarsten die Formel in zusammenhängende Elemente zerlegt, die die auf der Ebene der geschichtlichen Hilfswissenschaften wahrnehmbare Problematik der gesellschaftlich-politischen Veränderungen in den Gegensatz zwischen dem Tempo der technischen Entwicklung und dem Zurückbleiben der Selbstregierungseinrichtungen der Gesellschaft komprimiert. Der Verfasser dieser Zeilen sucht schon seit Jahren geeignete Methoden, um die geschichtlichen Hilfswissenschaften und die mit den Hilfswissenschaften nächstverwandte Amtsgeschichte auf sozialgeschichtlicher Grundlage zu erneuern. Welche Richtung der universalen Geschichtswissenschaft auch immer betrachtet wird, auf diesem