Komjáthy Miklós: Protokolle des Gemeinsamen Ministerrates der Österreichisch-Ungarischen Monarchie (1914–1918) (Magyar Országos Levéltár kiadványai, II. Forráskiadványok 10. Budapest, 1966)

Einleitung: Die Entstehung des gemeinsamen Ministerrates und seine Tätigkeit während des Weltkrieges

Lebens überblickenden Parlamente ersetzen. Nun sind aber der enge Zusammenhang der Innen- und Außenpolitik und ihre Wechselwirkung ein uraltes Postulat der Staatsführung. Der führende Staatsmann der Österreichisch-Ungarischen Monar­chie trat mit dem innerpolitischen Leben des Reiches systematisch und verfassungs­mäßig durch die Ministerspräsidenten der beiden Länder in Berührung. Ihre Infor­mationen dienten oft — da ihre Interessen nicht selten einander entgegengesetzt waren — nicht der Aufdeckung, sondern der Verschleierung der Wirklichkeit (je nachdem wurden sie beschönigt oder in ungünstigerem Licht dargestellt). 147 In Musulins Beobachtungen steckt zweifellos eine gewisse Wahrheit. Der Außen­minister der Monarchie führte die Amtsgeschäfte des Reiches tatsächlich isoliert, wenn auch nicht in dem Sinne, wie Musulin dachte. Er stand in der Tat nicht in der unruhigen, für jede Regung empfindlichen Welt der Parlamente, verfassungsmäßig erhielt er über die Ministerpräsidenten Kenntnis von den innerpolitischen Ver­hältnissen der beiden Reichshälften. Doch gab es für ihn außer diesen Möglich­keiten und Quellen noch unzählige andere Möglichkeiten und Quellen, um sich ins innerpolitische Leben einzuschalten und sich über die Entwicklung der Innenpoli­tik zu orientieren. Es ist wohl wahr, im überaus komplizierten Mechanismus der Monarchie stand dem Minister des Äußern in der Zeit, wo die Delegationen nicht tagten, nur ein einziges Forum zur Verfügung, in dem er seinen Standpunkt in diskursiver Form entwickeln konnte, der gemeinsame Ministerrat. Freilich sicherte dieser enge Kreis, der über das Wirken der Kräfte, die das Leben der Monarchie bewegten lediglich durch sorgfältig gesiebte Nachrichten Kenntnis erhielt, den Ministern des Äußern nur sehr einseitige Möglichkeiten für ihre Konzeptionen, was auch aus dem Material der Debatten stets ersichtlich ist. 148 Doch das, was Musulin im Amte des gemeinsamen Außenministers als negative Isolierung erschien, war eigentlich eine Isolierung im positiven Sinne. Musulin übersah oder wollte nicht sehen, daß sich der Außenminister, wenn er auch an den politischen Debatten der Parlamente nicht teilnahm, über unzählige andere, zuverlässige Quellen viel­seitig informieren konnte. Und was noch wichtiger ist; auf dieser Höhe des Staatsapparates, durch alte Regelungen kraft der Gewohnheit gesichert, stand er tatsächlich isoliert. In dieser Stellung — praktisch nur dem Monarchen gegenüber verantwortlich — und formell nur gezwungen, die Grundsätze seiner Außenpoli­tik ausschließlich mit den beiden Regierungschefs zu besprechen, brauchte er auf Parlamente und andere parlamentarische Faktoren kaum Rücksicht zu nehmen. 149 Die Funktion des Hauptes der Reichsregierung verminderte sich aus der Reichs­kanzlerschaft Beusts auf den Vorsitz im gemeinsamen Ministerrat und auf dem Gebiete der damit zusammenhängenden amtlichen Obliegenheiten auf die bürokra­tische Tätigkeit in der Präsidialsektion des Außenministeriums. 150 Verblieb also die Lenkung der Außenpolitik, von Metternich so formuliert: gelenkt durch »einen Geist und einen Willen«. Neben dem Minister des Äußern wurde die Tätigkeit des Ministerrates auf die Besprechung der anfallenden Fragen, auf die Ebnung der zwischen beiden Reichshälften eventuell vorhandenen und die außenpolitische Aktivität des Reiches lähmenden Gegensätze eigenschränkt, also auf die Rolle der »mündlichen Aussprache«. Dieser amtstechnische Teil des Überbaus dem noch die Spuren der überragenden Persönlichkeit der großen Vorgänger in diesem Amt

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