Komjáthy Miklós: Protokolle des Gemeinsamen Ministerrates der Österreichisch-Ungarischen Monarchie (1914–1918) (Magyar Országos Levéltár kiadványai, II. Forráskiadványok 10. Budapest, 1966)
Einleitung: Die Entstehung des gemeinsamen Ministerrates und seine Tätigkeit während des Weltkrieges
an die Minister, die den Budgetvoranschlag einreichten, unter anderem deshalb, weil darin vor der ungarischen Delegation von »gemeinsamem Ministerium«, vor der österreichischen hingegen von »Reichsministerium« die Rede war. Es wurde auch vorgebracht, daß die Benennung Reichsminister, die dem ungarischen Gesetz fremd und mit der Selbständigkeit Ungarns unvereinbar sei, vom Kaiser in mehreren amtlichen Erklärungen und Schriften gebraucht werde. Mit der Interpellation befaßte sich der gemeinsame Ministerrat am 30. und 31. Januar. Der »Reichs«-Kanzler Beust und die »Reichs«-minister 88 sagten, sie verstünden Ghyczys und seiner Anhänger Protest einfach nicht. Die beanstandeten Ausdrücke würden nunmehr mindestens schon ein Jahr lang gebraucht, auch die Ungarn hätten sie gehört, ohne jemals dagegen Einspruch zu erheben. Die Bezeichnung Reichsministerium sei keine Erfindung des Ministeriums, sondern sei lediglich Ausdrucksweise für das was als gemeinsam bezeichnet wird. 89 Der gemeinsame Finanzminister Becke brachte auch eine Etymologie des ominösen Terminus technicus : »Reich bedeutet eben : so weit das Scepter Seiner Majestät reicht.« Der oppositionelle Mittelgrundbesitzer Ghyczy und seine Anhänger sahen zwar nicht klar, wohin der Ausgleich das Land geführt hatte, machten sich aber Gedanken über seine Folgen. Ihr Protest war gegen Formsachen gerichtet; das Wesentliche, den Ausgleich, gegen den Kossuth in der Emigration revoltierte, wollten sie ebenso wie Deák und seine Anhänger, aber noch mehr als sie wollten sie die aus dem Ausgleich resultierenden schwerwiegenden Konsequenzen, die zahlreichen Beschränkungen der ungarischen Staatlichkeit verschleiern* Die Behandlung von Ghyczys Interpellation im gemeinsamen Ministerrat zeigt überaus klar, welche Auffassung die ungarischen herrschenden Kreise vom Wesen der Frage hatten. Gyula Andrássy stellte wiederholt fest, die Minister der einzelnen Länder müßten unbedingt mit den Reichsministern (auch er gebrauchte diesen Ausdruck!) solidarisch sein, auch er sei es. 90 Es wäre jedoch nicht richtig, bei Beantwortung der Interpellation anzuerkennen, daß der Text des österreichischen und des ungarischen Ausgleichsgesetzes in diesem Punkte voneinander abweichen. Es sei besser, die Tatsache, daß die beide Parteien gleicherweise betreffenden Gesetze der beiden Reichshälften in der Textierung nicht übereinstimmten, nicht zu berühren. Die ungarischen Minister hätten an zwei Fronten standzuhalten. Er beantragte, vom Gebrauch der Ausdrücke Reichsminister und Reichsministerium in ungarischer Relation abzusehen, denn — und diese Begründung ist sehr charakteristisch! — wenn die ungarischen Minister das Wort Reich benutzten, würden sie daheim von der öffentlichen Meinung ständig angegriffen werden. Nach längerer Debatte wurde schließlich in diesem Sinne entschieden. Von der Sitzung am 9. Februar 1868 bis zum Zusammenbruch der Monarchie wurden für die Protokolle des Reichsministerrates unverändert vorgedruckte Formulare mit der Aufschrift: »Ministerrat für gemeinsame Angelegenheiten« benutzt. 91 Die Debatte über die Terminologie bzw. deren aktenkundliches Erscheinen war der adäquate Ausdruck für den Ausgleich, der die ernsten inneren Gegensätze mit Scheinlösungen verschleierte und mit irreführender Phraseologie verdeckte. Die österreichischen Minister hatten recht, wenn sie sagten, der Begriff »Reich« drücke