Komjáthy Miklós: Protokolle des Gemeinsamen Ministerrates der Österreichisch-Ungarischen Monarchie (1914–1918) (Magyar Országos Levéltár kiadványai, II. Forráskiadványok 10. Budapest, 1966)
Einleitung: Die Entstehung des gemeinsamen Ministerrates und seine Tätigkeit während des Weltkrieges
wichtigeren Angelegenheiten des Reichsrats und der Landesvertretungen und der persönlichen Belange in der Lösung von Verwaltungsproblemen, die in die Kompetenz zweier oder mehrerer Zentralbehörden fallen und über die auf schriftlichem Wege keine Einigung erzielt werden konnte. Die kaiserliche Instruktion definiert den Begriff der »mündlichen Aussprache« als Funktion des Ministerrates fast in der gleichen Weise wie die während eines halben Jahrhunderts abgefaßten Protokolle des gemeinsamen Ministerrates. Im Jahre 1865 war dies der Wille des Kaisers, des jungen Herrschers, der auch weiterhin Mittelpunkt des »konstitutionell« gewordenen Reiches bleiben wollte. Am 29. Juli 1865, auf dem ersten Ministerrat nach Schmerlings Sturz, hat er, wie seine mit schulmeisterlicher Pedanterie gehaltene Rede bezeugt, auch in der neuen Staatsordnung seine persönliche Stellung als Herrscher als höchste Kraft betrachtet. 87 Diese politische Anschauung, ein genauer Ausdruck der damaligen innerpolitischen Lage der Monarchie, wollte zweifellos im Ministerrat nicht mehr erblicken als eine Körperschaft, die berufen ist, Gegensätze auszugleichen, strittige Fragen durch Verhandlungen zu lösen. Sie war als höchstes Forum der Verwaltung und als höchste ratgebende Körperschaft der Monarchie gedacht. So traf die positive Vorstellung des Kaisers vom Ministerrat auf den Willen der ungarischen Politiker, den Regierungscharakter des gemeinsamen Ministeriums zu leugnen. Es sollte keine Regierung geben, sondern lediglich ein Organ, das die Angelegenheiten auf höchster Ebene erledigte und strittige Fragen durch Verhandlungen löste. Die Angst der ungarischen Politiker vor irgendeiner Reichsregierung brachte es mit sich, daß im Text des Ausgleichsgesetzes der Teil, der die Funktionen des gemeinsamen Ministeriums hätte bestimmen sollen, leer blieb. Diese Lücke wurde im natürlichen Gang der Entwicklung der Dinge unbemerkt durch die Praxis des österreichischen kaiserlichen Ministerrates, die der kaiserliche Wille sanktionierte, ausgefüllt. Der Kaiser sah in seinen Ministern die höchsten Ratgeber der Krone. Im Ministerium ein Organ, das allein ihm verantwortlich war. Der Regierungscharakter, der dem gemeinsamen Ministerium nach der bürgerlichen Verfassung zukam, ging durch das Nichtvorhandensein eines parlamentarischen Gegengewichts verloren. Dieses parlamentarische Gegengewicht hatten die für den Ausgleich eintretenden ungarischen Politiker absichtlich vereitelt. Sie wußten sehr wohl, daß die legislatorische Entsprechung der gemeinsamen Regierung nur ein Reichsparlament sein konnte. Auf Regierungs- wie auf gesetzgeberischer Ebene wollten sie alles vermeiden, was auch nur den Anschein hätte erwecken können, über dem ungarischen Staat stünde ein Reich. Bevor wir näher untersuchen, wie die Lücke, die sich ergeben hatte, weil Aufgabenkreis und Zuständigkeit des gemeinsamen Ministeriums in den Ausgleichsgesetzen verschwiegen wurden, durch die Gewohnheit mit positivem Inhalt ausgefüllt wurde, möchte ich durch einige Belege beweisen, daß nicht nur die negativen Bestimmungen des Gesetzes, sondern wiederholte heftige Proteste und daraus folgende Entschließungen für den Regierungscharakter des gemeinsamen Ministeriums sprachen bzw. damit verbundene Fragen berührten. Schon zu Beginn, im Januar 1868, richteten Kálmán Ghyczy und seine Anhänger im Namen der linken Mitte im ungarischen Abgeordnetenhaus eine Anfrage