Mittheilungen des k.k. Kriegs-Archivs (1882)
Josef Rechberger Ritter von Rechkron, Oberstlieutenant im k. k. Kriegs-Archive: Wien's militärische Bedeutung (Eine historische Studie)
312 Wien’s militärische Bedeutung. So grosses Unglück hatte vorwiegend nur der Verlust der Reichshauptstadt im Gefolge, denn eben dadurch war die militärische Action den denkbar ungünstigsten Chancen anheimgefallen. Abgesehen von den grossen politischen und materiellen Vortheilen, welche Napoleon sowohl 1805 als 1809 aus der Besitzergreifung Wien’s zog, konnte er von da aus zum Nachtheile der kaiserlichen Streitkräfte nach mehreren Radien ungestraft offensiv wirken. 1805 hielt der französische Feldherr die österreichischen Truppen und die russische Armee in Mähren, sowie jene unter Erzherzog Carl auseinander. Hätten die österreichischen Streitkräfte Wien nur 15 Tage zu behaupten vermocht, so war Napoleon mit seinen 100.000 Mann nicht im Stande, auf die Austro-Russen in Mähren bei Austerlitz loszugehen, während Erzherzog Carl und Johann mit einer Gesammt- macht von 80.000 Mann in Ungarn standen. Denn, befaud sich die Reichshauptstadt nicht in des Feindes Händen, so konnte sich Kutusow, welcher 95.000 Mann befehligte, mit den beiden Erzherzogen vereinigen. Dies repräsentirte dann eine Macht von 175.000 Mann, welcher der französische Feldherr blos 100.000 Mann entgegenzustellen vermochte. Auch 1809 stand Napoleon hei Wien in der Mitte jenes Bogens, auf welchem Erzherzog Carl im Marchfelde, Erzherzog Johann zu Pressburg, der Palatin Erzherzog Josef zu Raab und weiterhin die Generale Chasteler und Gyulai in lllyrien und Steiermark vertheilt waren. , Die Besorgnisse bezüglich der westlichen Grenzen im dritten Decennium unseres Jahrhunderts, in Folge deren das befestigte Lager von Linz entstand, sind bereits beleuchtet. Glücklicherweise hatte sich dieses Befestigungssystem zum Schutze des Donauthaies und der Stadt Wien nicht zu erproben. Im Jahre 1866 war es abermals die Sorge um das wehrlose Reichscentrum, welche die Heeresleitung nöthigte, erst eine Waffenruhe nachzusuchen und dann einen Frieden abzuschliessen, welchem eine der schönsten Provinzen zum Opfer fiel. Aber noch schwerwiegender als dies wirkte Österreichs Ausscheiden aus dem deutschen Bunde auf dessen politische Machtstellung. Wenn nun, wie uns die Geschichte unwiderleglich lehrt, Wien stets das strategische Operationsziel jeder feindlichen Invasion war und sein wird, so drängen sich von selbst die folgenden Betrachtungen auf. Metzen Hafer, 20.000 Centner Hen und Stroh, endlich 10.000 Eimer Wein. Selbstverständlich musste Wien überdies den auf die Stadt entfallenden Theil der dem Lande auferlegten Contribution bezahlen. (Diese zu Beginn unseres Jahrhunderts vom Feinde auferlegten und thatsächlich gebrachten Opfer wurden, wie uns die Geschichte lehrt, vom Sieger mehr und mehr gesteigert, so z. B. sollte die Stadt Frankfurt, welche vier- bis fünfmal kleiner als Wien ist, an Preussen 25 Millionen Thaler bezahlen.)