Müller-Walter Judit: Mehr als Lebensgeschichten. Schicksale (Pécs, 2010)

Tante Annusch Frau Guhr, geborene Anna Trickl. Sie kam am 19. September 1927 in Szellő zur Welt. Sie ist deutscher Herkunft, aber in ihrem geliebten Szellő sprach man ungarisch. Heute lebt sie mit ihren Enkeln und Urenkeln in Pécsvárad. "... Dieses "Kreuz" mussten wir 941 Tage lang schleppen. Damals dachte ich, dass das unser Ende sei, aber die himmlischen Kräfte schenkten mir Hilfe und Trost: Du musst leben, man erwartet dich zu Hause! Ich war schon sehr Tante Annusch heute schwach. Ich entschied mich dazu meine zwei Röcke zu verkaufen, meine Ohrringe und meine Geldbörse, ich brauchte sie sowieso nicht mehr. Ich litt viel wegen meiner Abstammung, aber um Vergeltung schreie ich nicht. Nach drei Tagen steckte man uns in Viehwaggons. Wir waren zu vierzig in einem Waggon, und konnten nicht einmal unsere Füße ausstrecken. Wir erhielten 400 Gramm Schwarzbrot, manchmal ein wenig Tee und einige Stücke Würfelzucker und geräucherten Schafsknochen. Waschen konnten wir uns auch nicht. Mit einem Taschenmesser bohrten wir ein Loch um zu sehen ob die gute Sonne scheint oder ob es finster ist. Neben der Tür war ein 30x30 Zentimeter großes Loch, das war unsere Toilette. Ich glaube, dass reicht erstmal. Ende Februar kamen wir an. Die Sonne schien, aber das Ganze war ein trauriger Anblick. Ein hässliches wüstes Gebiet, zu sehen waren nur verstreute Eisentrümmer, auf dem Gelände ohne Bäume und Gebäude, hier und dort aus Stöckchen zusammengeheftete kleine Kreuze. Wir dachten, dass wir uns doch irgenwo hinlegen werden können, nach dieser langen Reise. Auf einmal erblickten wir das Lager. Neun große Baracken, mit dreimeterhohem Stacheldraht umzäunt, an den vier Ecken Reflektorenlichter und Wachen. Die Fenster waren eingeschlagen, die Türen weggerissen. Man sagte, dass dies die Deutschen zerstört haben, und dass wir es wieder in Stand setzten werden. Wir waren zwanzig Menschen in einer Räumlichkeit, dort schliefen wir eine Woche lang auf dem Boden. Dann bekamen wir Holzliegen und mit Sägespähnen gefüllte Säcke. Das war Horlowka. Die neunte Baracke war die Krankenbaracke. Wer dorthin kam, den brachte bald darauf das graue Pferd jenseits des Zaunes. Unsere erste Arbeit war das Aufräumen um die Baracke herum. Nach einem Monat bekamen wir schon gekochtes Essen, 400 Gramm Brot morgens, eine Tasse Tee, eine Handvoll gesalzenen, gepöklten Fisch, und nach der Arbeit Kohlsuppe oder Brühe. Und wie wir uns über das Dichte der Suppe freuten! Viele Arbeiteten in der Grube, ich war im Tagebau, so streichelte mich noch wenigstens manchmal die gute Sonne. Einmal gingen wir stehlen, von dem Feld des Kolchose holten wir Möhren, Zwiebeln und Tomaten. Auf dem Rückweg kreuzten wir dem berittenen Wächter und so rannten wir alles stehen- und liegenlassend zurück ins Lager und legten uns schlafen. Zum Glück ließ er uns nicht hervortreten. Daraufhin schwor

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