Müller-Walter Judit: Mehr als Lebensgeschichten. Schicksale (Pécs, 2010)

Vorwort Als ich ein junges Mädchen war, hörte ich von den Erwachsenen häufig Ausdrücke, die ich nicht verstand, wie zum Beispiel "Malenkij Robot", Aussiedlung, Enteignung oder Ansiedler. Meine Großeltern mütterlicherseits erzählten mir, dass sie mehrere Jahre "in Russland", wie sie sagten, gearbeitet haben, aber weitere Details blieben mir unbekannt, sie sprachen nicht davon. Ich wusste, dass meine Großeltern väterlicherseits einst in einem "großen Haus" lebten, aber dieses hatte man ihnen weggenommen. Warum, darauf konnte mir damals keiner eine mir verständliche Antwort geben. Später erst stellte sich in meinem Kopf das Bild zusammen. Ich verstand, aber natürlich wusste ich nicht, was damals alles mit den Ungarndeutschen geschehen ist. Wie viele unschuldige Mädchen und Familienmütter, Jungen und Männer aus Ungarn verschleppt wurden und zu jahrelanger 'Wiedergutmachungsarbeit "verurteilt wurden. Bis heute ist die genaue Zahl der verschleppten ungeklärt, aber man spricht so von über sechzigtausend Menschen. Mitunter die Hälfte ruht in namenlosen Gräbern in der unmittelbaren Umgebung der Arbeitslager der ehemaligen Sowjetunion. Die Um- und Aussiedlungen und Enteignungen berührten weitere Hunderttausende. Ihre "Schuld": die Zugehörigkeit zur deutschen Nation, in deren Namen im zweiten Weltkrieg so viele Verbrechen begangen wurden. Aber diese waren andere, nicht die, welche mit kollektiver Verantwortung beschuldigt wurden für Verbrechen anderer. Die später ausgehändigten staatlichen Entschädigungen für das erlittene Unrecht milderte, aber heilte nicht die Wunden. Heute weiß ich mit Sicherheit, dass diese Geschichten mehr als Lebensgeschichten sind. Seelisch habe ich mich schon längere Zeit auf diesen Kalvarienberg vorbereitet. Letztlich ermöglichte mir ein Stipendium der ungarischen Stiftung „Múzeumok és Látogatók" im Rahmen des Programms „Dialog der Kulturen" 2008 mich eingehener mit der Sammlung von Lebensgeschichten zu beschäftigen. An dieser Stelle sei Dank der Stiftung für diese Möglichkeit, der unterstützenden Worte und ihrem Vertrauen. Weshalb sind diese und nicht andere Lebensgeschichten in dieser Sammlung aufgeführt? Es hätten selbstverständlich auch andere sein können, doch meinen Lebensweg kreuzten diese Menschen und ihre Schicksale. Sie stehen nun hier stellvertretend im Namen aller übrigen Schicksalsgenossen. Auf dass wir alle aus ihren Schicksalen Kraft schöpfen mögen. Ich bedanke mich bei all jenen, die ihre Vergangenheit mit uns geteilt haben, uns ein Teil ihres Lebens mitgegeben haben. Dank für all die nicht zurückgehaltenen und nicht zurück zu haltenden Tränen. Ein Dank dafür, dass keiner Rechenschaft über das Vergangene verlangte, dass keiner die alten Wunden erneut aufreisen wollte, sondern das Erzählen vielmehr als Befreiung empfunden hat. Ich zumindest verabschiedete mich nach den Gesprächen jedesmal zutiefst gerührt. Das Tonmaterial dieser Sammlung - einige in deutschem Dialekt - und das Fotomaterial steht im Janus Pannonius Museum auch zu Forschungszwecken zur Einsicht zur Verfügung. Mögen sich die vergangenen Ereignisse mit keinem Menschen je wiederholen. Mit niemandem und nirgends. Judit Müller Stellvertretende Direktorin der Museen des Komitats Baranya

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