Inventare Teil 5. Band 4. Gesamtinventar des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs (1936)

Einleitung

Erster Abschnitt. § 1. 41* Eine weitere, sich allerdings nur langsam auswirkende Erleich­terung brachten die Genfer Protokolle vom 4. Oktober 1922 (BGBl. 1922 Nr. 842), in welchen sich England, Frankreich, Italien und die Tschechoslowakei verpflichteten, „die politische Unabhängigkeit, die terri­toriale Integrität und die Souveränität Österreichs“ zu achten. Mit dieser Verpflichtung war die Ausübung der seit 1918 eingerissenen Bräuche der „Archivliquidierung“ auf die Dauer nicht gut vereinbar. Die in diesen Pro­tokollen Österreich auferlegte Verpflichtung, einschneidende Ersparungen im Staatshaushalt durchzuführen, machte eine weitere Herabsetzung der Zahl der Beamten notwendig. Es war nun nicht mehr möglich, die Aus­scheidungsarbeiten unter Erfüllung aller damit zusammenhängenden Wünsche der fremden Delegierten und ihres Begleitpersonals weiterhin in den bisherigen Ausmaßen durchzuführen. Dazu kam, daß einzelne Nach­folgestaaten auch ihrerseits zu Sparmaßnahmen schreiten mußten und da­her den bisherigen, bisweilen mehr als 100 Köpfe zählenden Stand der archivalischen Besetzung nicht aufrechterhielten. So konnte es allmählich gelingen, zunächst die über die Archivverträge hinaus gewährten Zugeständnisse und Begünstigungen zurückzuziehen, dann eine Österreich günstigere Auslegung dieser Verträge immer energi­scher zu vertreten, auf die Einhaltung der von den Nationalstaaten über­nommenen Verpflichtungen zu dringen, bei Nichteinhaltung mit entspre­chenden Gegenmaßnahmen vorzugehen und sich schließlich beim Abschluß neuer Verträge immer mehr den Bestimmungen des Friedensvertrages anzunähern.1 Das zuletzt abgeschlossene Abkommen mit Polen vom 26. Ok­tober 1932 (BGBl. 1933 Nr. 165 1 2) zeigt allerdings, daß dieses Ziel noch lange nicht erreicht ist. Auch dieses Abkommen enthält noch alle wesentlichen, weit über den Friedensvertrag hinausgehenden Zugeständ­nisse des Prager Abkommens. Es darf jedoch nicht verwunderlich erschei­nen, daß die in den ersten Archivverträgen der Nachkriegszeit enthaltenen schwersten Beeinträchtigungen der österr. Souveränität darin gemildert und gewisse Erfahrungen der letzten zwölf Jahre verwertet erscheinen, besonders hinsichtlich der Verhütung vertragswidriger Veröffentlichungen vertraulicher, unter dem Siegel der Amtsverschwiegenheit eingesehener Aktenstücke (vgl. unten fünfter Abschnitt, § 5 d). Das Österreich von 1932 konnte nicht mehr dieselbe Behandlung erfahren, wie das von 1920. Die polnischen Delegierten hatten eben in den ersten Nachkriegsjahren durch Überspannung ihrer Forderungen, welche selbst der damaligen österr. Ke- gierung unannehmbar erschienen, den richtigen Zeitpunkt versäumt. Da der Friedensvertrag von Polen erst im Jahre 1924 ratifiziert wurde, so lag 1 Vgl. auch Karl Kazbunda a. a. 0. 623 ff. Abkommen mit Jugoslawien vom 26. Juni 1923 (BGBl. 1923, Nr. 602). 2 Vgl. J. Paczkowski, La remise des actes en connexion avec les changements de frontiéres entre les Etats, 2. Ausg., Poznan 1929, und die Aufsätze von E. Bar- winski, T. Manteuffel und J. Stojanowski in der Zeitschrift: Archeion I (1927), S. 19 ff., IX (1931), S. 17 ff. und XI (1933), S. 51 ff. Eine Widerlegung meiner Auslegung des Friedensvertrages (vgl. oben S. 39* Anm. 2) wird auch in diesen Schriften nicht versucht.

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