Inventare Teil 5. Band 4. Gesamtinventar des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs (1936)

Einleitung

40* Einleitung. leitete eine Art archivalischer Besetzung Österreichs ein, die sich um so drückender gestaltete, als die überdies noch schwer unter Personalmangel leidenden Archivverwaltungen in ihrem Bestreben, in der Praxis der Durch­führung wenigstens die über das Prager Abkommen hinausgehenden For­derungen abzulehnen, keinen Rückhalt bei der damaligen österr. Regierung fanden. Der Weltkrieg war angeblich ausgebrochen, weil Serbien eine ganz beschränkte Mitwirkung österreichischer und ungarischer Amtsorgane bei der Verfolgung der Urheber am Attentat von Sarajewo nicht dulden wollte. Jetzt mußte Österreich auf Grund des Prager Abkommens mehrere Jahre hindurch eine schrankenlose und vielfach unkontrollierte Durchsuchung1 seiner Archive durch eine große Zahl fremder Amtsorgane, denen ständige Amtsräume in den Gebäuden der österr. Ministerien zur Verfügung gestellt werden mußten (vgl. auch unten fünfter Abschnitt, § 5d), und auch sonst viele, nicht bloß in der Geschichte der Archive, sondern auch der zwischen­staatlichen Beziehungen bisher nicht erhörte Eingriffe in sein souveränes Verfügungsrecht dulden. Eine üble Folgeerscheinung des Prager Abkom­mens war es auch, daß nun die anderen Nachfolgestaaten dieselben Zu­geständnisse forderten1 2 und auch erreichten. Zusammenfassend kann ge­sagt werden, daß Österreich in Archivangelegenheiten viel härtere Bedin­gungen eingehen mußte, als sie den damals in der gleichen Lage befind­lichen anderen Staaten: dem Deutschen Reich, Ungarn,3 Bulgarien und der Türkei auferlegt wurden. Den Tiefpunkt bedeutete das Abkommen mit Rumänien vom 5. Ok­tober 1921 (BGBl. 1922 Nr. 583), das in mancher Beziehung noch ungün­stiger war als das Prager Abkommen. Von da ab gelang es, durch stärkere Einflußnahme der archivarischen Fachbeamten auf die endgültigen Ent­scheidungen 4 langsam eine Besserung herbeizuführen. Dies zeigt sich schon in dem am 6. April 1922 zu Rom von Österreich, Ungarn und sämt­lichen Nachfolgestaaten Unterzeichneten (von Ungarn nicht ratifizierten) allgemeinen Archivabkommen.5 1 H. Uebersberger im „Weg zur Freiheit“, IX, S. 401. 2 Mit Italien (26. Mai 1919 und 4. Mai 1920) und Jugoslawien (15. April 1920) waren vorher schon Abkommen auf wissenschaftlicher Grundlage zustandegekommen. L. Bittner, Die zwischenstaatlichen Verhandlungen, a. a. 0. 67 und 82. 3 Vgl. den für Ungarn viel günstigeren Archivvertrag zwischen der Tschecho­slowakei und Ungarn vom 3. Juni 1927 (Budapesti Közlöny vom 11. Sept. 1927). * Vgl. unten 4. Abschnitt § 2. Der oberste Chef der italienischen Archivverwal­tung, Eug. Casanova, schreibt in seinem Werke „Archivistica“ (Archivwissenschaft), Siena 1928, S. 394 über die Archivverhandlungen Österreichs mit den Nachfolge­staaten u. a. Folgendes: „Fu allora che si manifesto tutto 1’ amore che gli archivisti austriaci portavano alle scritture, affidate alle loro cure. Essi le difesero in tutti i modi, unguibus et rostris: e, noi, come uno dei compilatori delle domande italiane, come uno dei negoziatori, c’ inchiniamo, commossi, al loro patriotismo non solo, ma ali’ alto sentimento professionale e scientifico, che li guidd in quella occasione.“ Vgl. auch F. Valsecchi, L’Archivio di Stato di Vienna e la pubblicazione dei suoi inventari, in: Rivista storica italiana, LII. Jahrg. (1935), S. 478 ff.: „Fu il periodo eroico dell’ archivio Viennese: la difesa, passo passo, contro le rivendicazioni dei vincitori...“ 5 BGBl. 1924, Nr. 159; Archiv für Politik und Geschichte 1925, S. 83.

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