Inventare Teil 5. Band 4. Gesamtinventar des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs (1936)

Einleitung

Erster Abschnitt. § 1. 39* waren oder Gebietsteile der Monarchie besetzt hatten, betrachteten als soge­nannte Nachfolgestaaten dieses Staatseigentum als gemeinsames Eigentum1 und entsandten zu dessen Verwaltung eigene Kommissäre, die vielfach aus dem Stand der vor dem Umstürze angestellten und deshalb über alle Bestände und alle Einzelheiten des Dienstes unterrichteten Beamten genom­men wurden. Diesen Kommissären mußte der freie Zutritt zu den Beständen und deren schrankenlose Benützung zugestanden werden. Außerdem be­schäftigten sich eigene internationale Liquidierungskommissionen mit der Auflösung der Erbmasse und trafen auch eigentumsrechtliche Verfügungen. Auf diese Weise nisteten sich Bräuche und Ansprüche ein, die nur wider­willig aufgegeben wurden, als der Friedensvertrag die Anerkennung des ausschließlichen Eigentumsrechtes Österreichs brachte und auf dem Ge­biet des Archivwesens weit hinter dem zurückblieb,1 2 was die Nachfolge­staaten sich schon via facti zugesprochen hatten. Die verzweifelte Lage der neuen Republik Deutschösterreich, eine be­greifliche Panikstimmung, der Übereifer einzelner Referenten und eine offensichtliche Geringschätzung der Archive, die man leichteren Herzens preisgab als die Kunstsammlungen, führten zu einer vertragsmäßigen Festlegung vieler über den Friedensvertrag hinausgehender archivalischer Zugeständnisse zunächst gegenüber dem damals ernstesten Gegner, der Tschechoslowakei, im Prager Abkommen vom 18. Mai 1920 (StGBl. 1920 Nr. 479), dessen Abschluß unter Androhung der Einstellung der lebensnotwendigen Zucker- und Kohlelieferungen erzwungen wurde.3 Durch dieses Abkommen wurden viel mehr Archivalien preisgegeben, als im Frie­densvertrag vorgesehen war, wenn es auch durch zähes Festhalten am archivalischen Herkunftgrundsatz gelang, wenigstens die Bestände der Registraturen der Wiener Zentralbehörden aus der Zeit vor 1888 unversehrt zu erhalten, was gegenüber den schrankenlosen Aufteilungsplänen der Liquidierungskommissionen doch einen Erfolg bedeutete und eine Kata­strophe für die Wissenschaft verhütete.4 Dieser Erfolg mußte aber teuer er­kauft werden. Durch die im Friedensvertrag nicht vorgesehene Gewährung des freien Zutrittes der tschechoslowakischen Archivdelegierten und son­stiger weitgehender Benützungs- und Einspruchsrechte gab man die Souve­ränitätsrechte Österreichs über die ihm verbliebenen Archivalien preis5 und 1 Vgl. auch 0. Doublier, Die Wiener Hofbibliothek in Kriegsgefahr in: Zentral­blatt für Bibliothekswesen, S. 63—68. Die dort geschilderten Ereignisse vollzogen sich in ähnlicher Weise auch im StA. 2 Meine Auslegungen der archivalischen Bestimmungen des Friedensvertrags (Archiv für Politik und Geschichte III, S. 67—80) haben bisher noch keine Wider­legung gefunden. 3 Vgl. auch H. Uebersberger im „Weg zur Freiheit“, IX, S. 401. 4 Meine Ausführungen im Archiv für Politik und Geschichte, 1925, S. 67 ff. und in: Archiv. Zeitschr. 157 ff. 5 Karl Kazbunda, einer der bedeutendsten tschechoslowakischen Fachleute, spricht in einer Kritik des österr.-polnischen Archivabkommens vom 26. Okt. 1932 in der Zeitschrift Cesky Casopis Historicky XXXIX (1933), S. 623 ff. von einer schrittweisen Rückgewinnung der österr. Souveränität in Archivsachen, wodurch anerkannt wird, daß sie in den früheren Verträgen verlorengegangen war.

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