Inventare Teil 5. Band 4. Gesamtinventar des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs (1936)
Einleitung
10* Einleitung. teilen anderer Archivkörper vermischt werden sollen, wird sich wohl jeder denkende Archivar gestellt haben, seit es überhaupt organisierte Archivanstalten gibt. Wir werden daher in der Geschichte vieler Archivanstalten auch aus früheren Jahrhunderten Beispiele für die Beschreitung jedes der drei oben angedeuteten Wege finden, ebenso wie auch in der älteren archiva- lischen Fachliteratur1 das Für und Wider der einzelnen Ordnungssysteme erörtert wird. Schon für die früheren Jahrhunderte wird man feststellen können, daß die verschiedenen geschichtswissenschaftlichen Richtungen auch in der Gestaltung der Ordnungssysteme zum Ausdruck kommen. So hat insbesondere das Zeitalter des Rationalismus künstliche, schematisierende Ordnungssysteme bevorzugt. Eine wissenschaftlich aufgebaute Methodik der Behandlung der Archivkörper hat erst die genetische Richtung der Geschichtswissenschaft geschaffen. Nun begann man bewußt, die Archivkörper nicht bloß als Stoffsammlungen, sondern als unter besonderen, eigenartigen Bedingungen erwachsene Organismen zu betrachten. Daraus ergab sich die Forderung, diese Organismen in der ihnen durch ihre Entwicklung verliehenen Gestalt zu erhalten. Schon 1819 hat die philosophisch-historische Klasse der Berliner Akademie der Wissenschaften davor gewarnt, Archive verschiedenen Ursprungs nach der materiellen Anordnung durcheinanderzumengen.1 2 1841 ordnete ein Erlaß der französischen Regierung die unversehrte Erhaltung der einzelnen Archivkörper an. Während aber dieses französische System Neuordnungen innerhalb der (als Ganzes erhaltenen) Archivkörper nach einem neu vorgeschriebenen Sachschema anbefahl, ging das von Heinrich von Sybel 1881 ausgefertigte Regulativ für die Ordnungsarbeiten in den preußischen Staatsarchiven in der folgerichtigen Anwendung des Entwicklungsgedankens noch weiter und ordnete an, daß die Archivkörper in jener Zusammensetzung zu erhalten seien, die sie im Geschäftsgang der Behörde erhalten haben.3 Zu diesem als Herkunftgrundsatz bezeichneten System lieferte nachmals das 1898 erschienene Werk der holländischen Archivare Muller, Feith und Fruin, Handleiding voor het ordenen en beschrijven van Archieven eine ausführliche Gebrauchsanweisung, so daß man heute von einem preußisch-holländischen System spricht. Dieses verdient schon deshalb den Vorzug vor allen anderen Systemen, weil es sich in praktischer Hinsicht am geeignetsten erwiesen hat und weil es in seiner folgerichtigen Durchführung des Entwicklungsgedankens der Methode der zur Führung gelangten genetischen Richtung der Geschichtswissenschaft entspricht, welche insbesondere die historischen Hilfswissenschaften auf die heute erreichte hohe Stufe gebracht und deren Ausgestaltung in immer neuen Zweigen, so vor allem in der für das Archiv1 E. Casanova, Archivistica, 2.a Edizione, Siena 1928, S. 378 ff. 2 Gustav Winter in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen 1911, S. 262. 3 Ich vermeide es, auf die einzelnen Phasen der Entwicklung einzugehen, da alles Wesentliche samt der einschlägigen Literatur in zwei Aufsätzen des 42./43. Bd. der Archival. Zeitschr.: C. G. Weibull, Archivordnungsprinzipien, S. 52—72 (samt einem lehrreichen Nachwort der Schriftleitung und einer Gegenäußerung Weibulls) und H. 0. Meisner, Archivarische Berufssprache, S. 260—280 gesagt ist. Vgl. auch meinen oben zitierten Aufsatz über die zwischenstaatlichen Verhandlungen, S. 64 ff., 84 ff.