Lothar Groß: Inventare Teil 5. Band 1. Die Geschichte der deutschen Reichshofkanzlei von 1559-1806 (1933)

I. Die allgemeine Entwicklung der Reichskanzlei von 1559-1806 - 3. Die Reichskanzlei im Kampfe mit der österreichischen Hofkanzlei bis zum Rücktritt des Reichs Vizekanzlers Schönborn

lehnte Boineburg mit der Motivierung ab, daß dieser nicht die nötige Er­fahrung und Reife für ein „so hoch importirendes“ Amt besäße und man ihm nicht das Wohl und Wehe so vieler Millionen Menschen an vertrauen könne. Diese Argumentation entsprach gewiß weitgehend den Tatsachen. Boineburg konnte noch auf keine längere staatsmännische Laufbahn zu­rückblicken, überdies hatte er vor allem im Fürsten Salm einen scharfen Gegner am Hofe und hatte sich gerade im entscheidenden Augenblick durch sein taktloses Vorgehen in den letzten Lebenstagen des Grafen Windisch- grätz in den Augen Leopolds schwer kompromittiert, indem er in fast ungestümer Weise noch bei Lebzeiten Windischgrätz’ seine Bewerbung be­trieb. Maßgebender noch als diese Einwände gegen Boineburg war für den Kaiser die Erwägung, daß er eine Kreatur des Mainzer Kurfürsten als Vize­kanzler nicht brauchen konnte. Gerade die Begründung seiner Ablehnung Boineburgs beweist ja deutlich, wie wichtig dem Kaiser das Vizekanzleramt erschien. Er wünschte daher einen ihm und nicht dem Erzkanzler ergebenen Mann, sein Kandidat war der Reichshofratspräsident Graf Wolf öttingen. Mit diesem Ziele vor Augen kümmerte man sich in Wien weder um die Bestimmungen der Kanzleiordnung noch der Wahlkapitulation, der Kaiser verlangte vom Erzkanzler sogar, er möge ihm mehrere Kandidaten zur Auswahl vorschlagen, eine Forderung, die in Mainz mit vollem Recht ab­gelehnt wurde. Die Hartnäckigkeit, mit der beide Teile auf ihrem Stand­punkt beharrten, ließ einen überaus langwierigen Konflikt erwarten, woran auch die Verhandlungen des vom Kaiser zum Kurfürsten gesandten Reichshofrats Maystetter zunächst nichts zu ändern schienen, zumal der Kurfürst vom Residenten Gudenus auch weiterhin zum Ausharren an­geeifert wurde. Da eröffnete der freiwillige Verzicht Boineburgs auf seine Kandidatur einen Ausweg. Das Festhalten Leopolds an öttingen, für den er durch das Versprechen einer Jahrespension sogar die Hilfe Boineburgs beim Kurfürsten gewann, zog allerdings die Erledigung des Streitfalles noch durch fast drei Monate hin, da der Erzkanzler sich ebenso hartnäckig wie Leopold weigerte, öttingen anzunehmen. Er setzte schließlich wenigstens insoweit seinen Willen durch, als nicht öttingen, sondern der damalige Gesandte im Haag Graf Dominik Andreas Kaunitz, der dem Kaiser nach öttingen auch genehm war, Reichsvizekanzler wurde. Aber noch aus dem Schreiben des Kaisers an den Erzkanzler vom 24. Juni, in dem er hiezu seine Zustimmung gab, spricht der Groll darüber, daß er öttingen nicht durchsetzen konnte, und es ist recht bezeichnend, daß der Kaiser im Kon­zept des Schreibens an den Kurfürsten vom 6. Juli, mit dem Kaunitz offiziell als Vizekanzler angenommen wurde und in dem nun wieder auf die erzkanzlerischen Rechte ausdrücklich Bezug genommen erscheint, mit eigener Hand Korrekturen anbrachte, die über formale Änderungen hinausgehen und deutlich eine gewisse Reserve erkennen lassen 213). Wenn der Streit so auch anscheinend mit einem Kompromiß beendigt wurde, so hatte doch der Kurfürst dabei den kürzeren gezogen. Es hatte 21s) R. K. Verf. A. 2. — Ursprünglich war nur ein „Handbriefl“ vorgesehen, in dessen Konzept die Rechte des Erzkanzlers überhaupt nicht erwähnt werden. Nach dem Vermerk des Verfassers desselben, des Sekretärs Consbruch, wurde dieses aber nicht approbiert, sondern ein Reskript verfaßt,.das auf Kanzleiordnung und Wahlkapitulation hinweist und das mit den erwähnten Korrekturen die Genehmigung des Kaisers fand. 60

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