Lothar Groß: Inventare Teil 5. Band 1. Die Geschichte der deutschen Reichshofkanzlei von 1559-1806 (1933)

I. Die allgemeine Entwicklung der Reichskanzlei von 1559-1806 - 3. Die Reichskanzlei im Kampfe mit der österreichischen Hofkanzlei bis zum Rücktritt des Reichs Vizekanzlers Schönborn

sich klar erwiesen, daß die Bestimmung der Wahlkapitulation Leopolds, wonach der Erzkanzler allein über die Besetzung des Vizekanzlerpostens entscheiden sollte, eigentlich nur auf dem Papiere stand. Solange der Kaiser Wert auf dieses Amt legte, war sein Einfluß bei dessen Besetzung nicht zu beseitigen. Jeder Versuch dazu mußte unweigerlich zu einem Konflikte führen. Die Reichskanzlei konnte auch unter Kaunitz, der erst am 9. Januar 1698 nach seiner Rückkehr installiert und indessen vom Reichs­hofratsvizepräsidenten Grafen Sebastian W. Zeil vertreten wurde, ihre in den letzten Jahrzehnten wiedergewonnene Stellung voll behaupten. Kaunitz gehörte wie Windischgrätz zu den einflußreichsten Ministern des Kaisers, besonders seit dem Tode des Grafen Ulrich Kinsky im Februar 1699 wurde er als die wichtigste Persönlichkeit am Wiener Hofe be­trachtet 214). Der Geschäftskreis der Kanzlei blieb, zumal auf dem Gebiete der äußeren Politik, unter ihm noch un­geschmälert2141), zumal auch der Kaiser selbst in dieser Beziehung die Kanzlei stützte. Die Reichssachen hat Kaunitz allerdings offenbar ganz vom Gesichtspunkt der österreichischen Interessen betrachtet und teilweise vernachlässigt; es scheint, daß es ihm hier auch an Kenntnissen fehlte 215). Er fühlte sich überhaupt ganz als Minister des Kaisers, wie auch, schon Windischgrätz, und ließ den Erzkanzler gerne links liegen, was in der preußischen Königsfrage, über die er Lothar Franz von Mainz vorher über­haupt nicht informierte, zu einer gereizten Auseinandersetzung mit diesem führte216). Bei der eigenartigen Stellung des Reichsvizekanzlers und der Kanzlei mußte dieser Zustand über kurz oder lang unhaltbar werden. Er mußte es in dem Augenblicke werden, in dem die Politik des Kaisers mit der des Kurfürsten von Mainz in Konflikt geriet. Die Gefahr für die Reichskanzlei mußte dann um so größer werden, wenn an der Spitze der österreichischen Hofkanzlei, ihrer alten Rivalin, ein tatkräftiger und be­gabter Mann stand. Unter dem Nachfolger des Grafen Kaunitz haben die Dinge diese Wendung genommen. Überblicken wir die Entwicklung der Reichskanzlei seit dem Tode des Grafen Kurz (1659) bis zum Tode des Grafen Kaunitz (1705), so müssen wir feststellen, daß sie doch nicht in einer so einheitlichen Linie nach abwärts führte, wie dies Kretschmayr an­nahm 217). Man wird vielmehr zwei Epochen unterscheiden können: eine des raschen Sinkens der Kanzlei während der Vizekanzlerschaft Walderdorffs und der ersten Jahre der Leitung Königs- eggs bis etwa 1676 und eine zweite des Wiederaufstiegs, in 214) Vgl. Pribram, Österreich und Brandenburg 1688—1700, 130; vgl. jedoch auch das ungünstige Urteil bei H a n t s c h a. a. O. 50 ff. 214a) Recht bemerkenswert für die der Reichskanzlei günstige Haltung Leopolds ist folgender eigenhändiger Vermerk des Kaisers auf einem Vortrag des Hofkriegsratspräsi­denten Starhemberg v. 10. Juni 1699: „das concept an könig von Persien ist wohl ein­gerichtet, khan also expedirt werden. Die expedition an Moskaw aber hat allezeit die reichscantzlei geführet, also wird es billich dahin zu remittiren sey n.“ 215) Vgl. Hantsch 51. ■L0) Vgl. hierüber Hantsch, 76, u. unten S. 348. 217) Reichsvizekanzleramt 433 ff. u. 449 ff. 61

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