Lothar Groß: Inventare Teil 5. Band 1. Die Geschichte der deutschen Reichshofkanzlei von 1559-1806 (1933)

I. Die allgemeine Entwicklung der Reichskanzlei von 1559-1806 - 2. Die Reichskanzlei unter Rudolf II. und Mathias

erlangt hatte, wurde sie 1612 der Reichskanzlei einverleibt. Darauf werden wir noch zurückkommen. Während so durch die Schaffung selbständiger Behörden in Wien die Tätigkeit der Reichskanzlei für das Gebiet der österreichischen Erbländer so gut wie ganz erlosch, griff andererseits auch in der Kanzlei selbst Unord­nung und Desorganisation immer mehr um sich. Das letzte Jahrzehnt der Regierung Rudolfs II. war für die Reidiskanzlei eine Periode ausge­sprochenen Verfalls. Die Krankheit des Kaisers und die dadurch be­dingte Unfähigkeit, die Regierung wirklich zu führen, die Nachlässigkeit des Vizekanzleramtsverwalters Coraduz und die Einflußlosigkeit und Schwäche seines Nachfolgers Stralendorff bewirkten, daß die Kanzlei nur mehr schwer und sehr schleppend funktionierte. Vor allem anderen war es der Kaiser selbst, der in seinem menschenscheuen und mißtrauischen Wesen fast jeden normalen Verkehr mit den Leitern der Kanzlei unmöglich machte und dadurch die Erledigung der Geschäfte ungemein erschwerte und verzögerte. Besonders mißlich war es, daß er die ihm zur Unterschrift vor­gelegten Stücke viele Wochen und Monate liegen ließ, bis er sich zu ihrer Unterzeichnung entschloß. Schon in den Jahren 1600 und 1602 hört man, daß die Schreiben viele Tage beim Kaiser bei der Signatur liegen bleiben 8S). Später wurde dies aber immer ärger. Im Januar 1607 berichtet Bodenius dem Herzog von Bayern, daß mehrere tausend Schreiben seit dem August 1606 auf die Unterschrift des Kaisers warten 84). Weitaus am schlimmsten für die Erledigung der ganzen Geschäfte war jedoch die immer größer werdende Korruption am Kaiserhofe, die ihre Hauptursache in dem Kammerdienerregiment hatte, das seit dem Ende der Neunzigerjahre immer mehr um sich gegriffen hatte. Der berüchtigte Philipp Lang, der von 1603 bis 1608 den größten Einfluß bei Rudolf II. besaß, war der ärgste unter diesen Kammerdienern 85). Immer wieder finden sich in allen Berichten vom Prager Hofe die Klagen über die Verschleppung aller Geschäfte, über Be­stechlichkeit und Intrigen. Besonders in Rudolfs letzten Jahren drohte die ganze Regierungsmaschinerie infolge dieser Mißstände völlig zum Stillstand zu kommen 86). Der desolate Zustand der kaiserlichen Behörden veranlaßte schließlich im Jahre 1610 die Reichsfürsten zum Eingreifen. Der Prager Fürsten­tag, der sich im April 1610 auf Veranlassung des Kaisers versammelte87), hat sich in seinen bis in den Spätsommer dauernden Beratungen intensiv mit der Reform der kaiserlichen Regierung, insbesondere auch des Reichs­hofrats und geheimen Rats, befaßt. Johann Schweikhard von Mainz erbot sich, dem Kaiser gegenüber mündlich und schriftlich gemäß seiner Pflicht als Erzkanzler für eine bessere Ordnung zu sorgen, ohne indessen bei Rudolf 83) S t i e v e, Briefe u. Akt. 5, 713, Anm. 3. 8i) Stieve a. a. O. 823, Anm. 1. 85) Uber Lang vgl. H u r t e r, Philipp Lang, Kammerdiener Kaiser Rudolfs II., und Stieve i. d. Alig. deutsch. Biogr. m) Uber die Hemmnisse des normalen Geschäftsganges der Reidiskanzlei unter Ru­dolf II. vgl. des näheren unten S. 168 f. 87) Vgl. über den Prager Fürstentag Ritter, Deutsche Gesch. i. Zeitalter der Gegen­reformation, 2, 332 ff. u. 343 ff., sowie die bei Karl Mayr, Briefe u. Akten, 8, 125, Anm. 1 zitierte Literatur. Hier auch das Protokoll des Fürstentags. 30

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