Historische Blätter 7. (1937)

Paul Kletler: Karl der Grosse und die Grundlegung der deutschen Kultur

Eine völlige Wiedererweckung der klassischen Kultur als Ganzes aber erfolgte unter Karl dem Großen oder auch sonst ebensowenig wie eine Erneuerung des Imperium Romanum. Man kann höchstens eine Renaissance einzelner Zweige und Seiten der antiken Kultur beobachten81, etwa der lateinischen Sprachreinheit oder verklungener klassischer Versmaße, vor allem aber eine dauernde Wechselwirkung zwischen der nachlebenden Antike und der jungen sich entfaltenden deutschen Kultur. Und in beiden Beziehungen haben Karl d. Gr. und sein Kreis und die unmittelbar folgenden Generationen, unter denen die Früchte des kulturellen Werkes Karls reiften, Entscheidendes geleistet. In einem Rundschreiben befiehlt Karl allen Bischöfen und Äbten die Beschäftigung mit den Wissenschaften, d. h. mit den klassischen Autoren. Die lateinische Sprache der Schrift­steller an Karls Hof, ja selbst die Sprache seiner Gesetze steht an Rein­heit und Glätte hoch über dem merowingischen Latein. Im Kreise der Gelehrten und Dichter, die Karl um sich versammelte, wurden symbolisch Angilbert Homer und Alkvin Flaccus, d. i. Horaz genannt. Alkvin klagt in einem Briefe an seinen Schüler, den Erzbischof Rigbod von Trier, Vergil habe sein Bild, das Bild des Lehrers, aus dem Herzen des Schülers verdrängt. „Wenn doch“, so ruft er aus, „die vier Evangelien und nicht die zwölf Bücher der Aeneide Dein Herz erfüllen möchten!“01 a Walahfrid Stra- bus, Mönch, dann Abt von Reichenau, verwendet dreihundert Jahre nicht mehr erklungene lyrische Versmaße wieder. In der Baukunst verwendet man Anregungen aus Italien. Und nach der Mitte des 9. Jahrhunderts kann der Dichter des deutschen Evangeliums, Otfrid, mit schauerndem Staunen sagen: „Wir sehen, wie durch die Werke der heidnischen Dichter, Vergils, Lucans, Ovids, die Welt ins Schwanken gerät!“82 Heute werden wir nicht mehr streiten, ob das Christentum oder die Antike den Germanen mehr zum Segen oder zum Verderben gereicht habe, sondern wir wissen, daß das schöpferische, zeugende Element beiden gegenüber das Germanentum war. Die Germanen nahmen aus den fremden Kulturkreisen, was sie brauchten, ja auch im Ringen mit dem, was sie nicht brauchten, oder so, wie es war, nicht brauchen konnten, sind ihre eigenen und eigentümlichen Kräfte gewachsen. Auf kulturellem Gebiete sind Gegensätze, abgesehen von besonders ungünstigen Bedingungen, immer förderlich und die Ursache jedes Fort­schritts. Durch den Zwang, sich mit soviel Fremdem auseinanderzusetzen, es irgendwie zu bewältigen, es sich anzueignen und dienstbar zu machen, 61 Vgl. hiezu meine Deutsche Kultur, 63 ff. 61» MG. Epist. IV 29 (Ale. epist. 13). 62 Widmungsbrief an Erzb. Liutbert, c. 865, Epp. VI, 167. 28

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