Historische Blätter 7. (1937)
Paul Kletler: Karl der Grosse und die Grundlegung der deutschen Kultur
haben die Germanen, die Deutschen gerade ihr eigenes Wesen behaupten, entfalten und steigern gelernt. Mit den Aufgaben wuchs ihre schöpferisch umformende Kraft. Durch die Aufnahme der ganzen Fülle der christlich- orientalischen und der antiken Kulturelemente wurde die deutsche Kultur mit jener Spannung geladen, die im Mittelalter und noch darüber hinaus, besonders im Barock und in der Romantik, ihr Wesen ausmacht und die sich in ihren höchsten Leistungen, in großen Kunstwerken z. B., doch immer harmonisch löst. Aber es ist eine Harmonie, die erkämpft ist, in der Gegensätze zusammenklingen. Man kann sagen: Durch die Zusammenschweißung der verschiedensten Kulturelemente durch die schöpferische Kraft des Germanentums ist die deutsche Kultur überhaupt erst entstanden. Denn für den Charakter einer Kultur ist nicht das Objekt maßgebend, sondern das Subjekt: Was durch deutsche Hände, durch deutsche Köpfe und Herzen ging, wurde deutsch! Die äußere Form, Titel und Würde der römischen Imperatoren erfüllte Karl d. Gr., dessen Ziel nicht Italien, sondern das große Missionsgebiet im Osten war6S, mit dem Inhalt einer ganz neuen, deutschen Kaiserpolitik, aus der altorientalischen Zierkunst der Zellenverglasung, aus dem gleichfalls orientalischen Tierornament, kurz aus asiatischen Kunstformen, deren Träger die Germanen auf ihren Wanderungen geworden waren, schufen sie in eigenartiger Weiterbildung und Verbindung mit dem autochthonen Bandgeflecht eine Ornamentik, deren hinreißender Schwung den stürmischen Lebensdrang und die Leidenschaftlichkeit des germanischen Subjektivismus zum Ausdruck bringt, aus der frühchristlichen Basilika, die ihrerseits wieder auf der antiken Profanbasilika beruht, wurde unter Einwirkung des altgermanischen Holzbaues eine völlig deutsche Kirchenbaukunst, deren kontrastreiches Bewegungsspiel die gleiche leidenschaftliche Unruhe — hier als Ausdruck der christlich-transzendentalen Sehnsucht — verrät, wie die eben geschilderte Ornamentik, dieselbe Unruhe, die die Germanen zu ihren großen Wanderungen trieb! Aufwärts wird die Bewegung entfesselt durch die Türme und Turmgruppen, seitwärts durch die Querhäuser und in der Richtung der Längsachse durch den sogenannten Stützen Wechsel, d. h. die abwechselnde Verwendung von Säulen und Pfeilern. Es ist interessant, diese Mittel näher zu betrachten: Die Turmbauten sind eine germanische Erfindung, den Mittelmeervölkern fremd; der Stützenwechsel aber stammt aus dem Orient! Aus dem Orient stammt auch der dieser architektonischen Rhythmik entsprechende rhythmische Versbau, dessen Wesen in dem Zusammen- 63 63 Brackmann in „Karl der Große oder Charlemagne?“ 57. 29