Historische Blätter 7. (1937)
Paul Kletler: Karl der Grosse und die Grundlegung der deutschen Kultur
schließlich handelt es sich ja um das germanische Wesen, nicht um die germanische Religion an sich. Von der altgermanischen Religion wissen wir, wie gesagt, wenig und überdies verdecken uns die Quellen begreiflicherweise gerade ihre schönen und starken Seiten. Vielleicht ist das der Grund, weshalb es uns scheinen will, als fänden manchmal besonders die Schattenseiten, die Schwächen germanischen Wesens im heidnischen Glauben und Kult ihren Ausdruck. So vor allem die Angst vor den grausamen, Blut fordernden Göttern und Dämonen, die man durch Opfer zu „versöhnen“ trachtet. Wohl mit Recht hat man als Hauptwurzel der Menschenopfer die Todesfurcht, das Bestreben, das eigene Leben durch Opferung eines anderen zu retten, bezeichnets2. Jedenfalls sind die Menschenopfer als solche doch wohl ein recht düsterer Teil des heidnisch-germanischen Kultes. Denn Avenn auch in der Regel außerhalb der Rechtsgemeinschaft Stehende, Verbrecher, Fremde (Kriegsgefangene), Unfreie, geopfert wurden, so war es doch grausam genug, wenn eben auch Sklaven — wie bei der alljährlichen Nerthusfeier — getötet, oder von den 539 in Italien eingedrungenen Franken gotische Weiber und Kinder als Erstlingsopfer des Krieges in den Po geworfen wurden. Ja, es wurden, wenigstens in älterer Zeit, auch Stammesgenossen dargebrachtss. Diese Menschenopfer sind nun keineswegs erst eine Erscheinung „altgermanischer Dekadenz“, da durch Funde wie auch durch literarische Quellen ihre jahrhundertelange Übung erwiesen ist. Die zahlreichen unzweideutigen literarischen Zeugnisse (Mogk kennt 50) beginnen mit Strabo32 33 34. Andererseits gehörten sie aber auch zur Zeit Karls des Großen keineswegs einer vielleicht roheren Vergangenheit an. Denn abgesehen von den späten Zeugnissen Thietmars und Adams für den Norden, sind auch für die deutschen Stämme Menschenopfer noch im 8. Jahrhundert zu belegen, und zwar nicht, wie bisher, durch erzählende Berichte aus zweiter Hand, sondern durch gesetzliche Bestimmungen: 743 werden auf der Synode von Estinnes Menschenopfer für Donar verboten und — was für uns hier von besonderer Bedeutung ist — die von Karl erlassene Capitulatio de partibus Saxoniae bestimmt die Todesstrafe für jeden, der „hominem diabulo sacrificavérit et in hostiam more paganorum daemonibus obtulerit“ (c. 9). Man kann dieses 32 Mogk 1. c. 612, 616, 618, 638. — Dörriea 1. c. 14. 33 Siehe Mogk 1. c. bes. 629. — Ders., Germanische Religionsgeschichte und Mythologie2, 1921, 130 f. — Jan de Vries 1. c. 251. Das Sohnesopfer ist im Norden noch für das 10. Jahrhundert bezeugt (Dörries 1. c. 13). Also nicht nur im Alten Testament! 34 Für die Südgermanen s. jetzt die Zusammenstellung bei Jan de Vries 1. c. 251. 2* 17