Historische Blätter 5. (1932)

Georg Wittrock: Gorčakow, Ignatiew und Šuwalow

Zuruf begleitet. Die Bewegung ist in starkerund rascher Zunahme. Die Sprache der Zeitungen wird kühner, auf den Ver­kaufsplätzen sieht man das Publikum vorzugsweise nach denjenigen Blättern greifen, welche die slawische Sache am lebhaftesten vertreten. Der Kanzler, geistig frisch wie nur je, entzieht sich nicht völlig der all­gemeinen Erregung; in seinen Gesprächen leuchten schon Gedanken auf, welche sich bald in die Form eines Zirkulars oder Manifestes kleiden würden, wenn der Kaiser nicht wäre. Aber auch der Kaiser ist anders als vor Wochen; die Einflüsse, denen er in Ems und Jugenheim entrückt war, machen sich jetzt fühlbar 54.“ Langenau teilt sogar „aus vertraulicher, aber sicherer Quelle“ mit, daß eine Bewegung im Gange gewesen sei in der Absicht, im Lande Unterschriften für eine Adresse zu sammeln, um den Kaiser zu vermögen, seine äußere Politik zu ändern, obgleich es dem Leiter des Innenministe­riums gelungen sei, die Ausführung dieses Planes zu verhindern — im alten Rußland eine unerhörte Begebenheit! Seinesteils zieht der General noch einmal den von seinem Chef in Wien bezweifelten Schluß, daß man der Gärung durch Pazifikationsversuche in der Türkei Einhalt tun müsse 55. Die scharfe Mißstimmung gegen die habsburgische Monarchie, die in gewissen an die deutsche Regierung gerichteten Erkundigungen zum Ausdruck kam, mußte sich bei diesen Verhältnissen auch in der russi­schen Presse abspiegeln. Die russische „Petersburger Zeitung“ — es gab auch eine deutsche und eine französische — enthielt am 17./29. Sep­tember einen Artikel mit dem ziemlich unzweideutigen Titel: „Zur Eventualität eines russisch-österreichischen Krieges.“ Die Aufsicht der Regierung wurde schlaffer: „Russkij Mir“, der auf drei Monate einge­zogen worden war, durfte schon nach einem Monat wieder heraus­kommen und nahm sogleich wieder seine feindlichen Ausfälle gegen Österreich auf; „Nowoje Wremja“ und das Organ des bekannten Pan­slawisten Michael Katkow, „Moskowskija Wedomosti“, sekundierten ihm in demselben Tone; sogar in dem maßvolleren „Golos“, zu dieser Zeit dem am meisten gelesenen Blatt Rußlands, begegnete man bitter tadeln­den Worten über die Politik des Wiener Kabinettes. Die „Petersburger Zeitung“ (in dem erwähnten Aufsatze) rechnete mit zynischer Offenheit auf den Abfall österreichischer Truppen slawischer Nationalität — eine Vorhersage, die damals vielleicht nicht in Erfüllung gegangen wäre, 54 Schweinitz, Denkwürdigkeiten, I S. 346. 55 Langenau an Andrássy 4./16. Aug. 1876. Wien. 7 97

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