Historische Blätter 5. (1932)
Georg Wittrock: Gorčakow, Ignatiew und Šuwalow
der Hauptstadt Österreichs zusammen. Aui die in sehr schmeichelnder Form gestellte vertrauliche Frage, ob sein eigenes Land und Europa nicht darauf zählen könnten, ihn bald an der Spitze der Leitung der auswärtigen Angelegenheiten zu sehen, antwortete der russische Staatsmann, daß er es kaum wünschen könne, denn bei den widerstreitenden Strömungen, die am Zarenhofe herrschten, könne jeden Augenblick an ihn die Forderung gestellt werden, eine Politik zu vertreten, die seiner Überzeugung widerstrebe. Dies könne er aber als ehrlicher Mann niemals tun, und es würde ihm dann nur übrigbleiben, seinen Abschied zu begehren. Er hoffe darum lebhaft, daß dieser Kelch an ihm Vorbeigehen würde. Außerdem — es sehe gar nicht danach aus, als ob Fürst Gorcakow ungezwungen abgehen wolle, und um ihn förmlich zu verabschieden, sei der Kaiser zu gutmütig126. Ignatiew und Suwalow, die vornehmsten Vertreter zweier entgegengesetzter Hauptrichtungen der russischen Staatskunst, hatten also infolge von Enttäuschungen, die die Auseinandersetzung zwischen den Mächten nach dem Ende des Krieges mit sich gebracht hatte, beide das Spiel aufgeben müssen, soweit die höchste Leitung der auswärtigen Politik des russischen Reiches das Ziel ihres Strebens war. Gorcakow war außerstande, das Amt zu verwalten, an dem er gleichwohl so eigensinnig bis zum äußersten festhielt. Die Arbeit des Ministeriums des Äußern wurde in der Tat unter der Aufsicht seines „Adjoints“, Nikolaj Karlowic Giers, verrichtet. Bescheiden und vorsichtig, wegen jeden falschen Schritts besorgt, besonders so lange als er selbst eine untergeordnete und unsichere Stellung einnahm, hatte dieser Sprößling eines schwedischen Karolinen lange einen Hauptteil der Bürde getragen, ehe man eines schönen Tages, wie es scheint gegen das Ende des Jahres 1878, entdeckte, wie hoch er im Vertrauen seines Herrn gestiegen war. Jetzt hieß es sogar, daß er die Würde eines Ministers des Äußern unter Gorcakow als Staatskanzler bekommen sollte, aber der Kaiser, der offenbar trotz allem seinem langjährigen Diener sich tief verpflichtet fühlte, scheint selbst diese Lösung für dessen empfindliches Gefühl des eigenen Wertes kränkend gefunden zu haben 127. 120 Langenau an Andrássy 22. Nov./4. Dez. 1S78 (Privatbrief). Wien. 127 Langenau an Andrássy 22. Nov./4. Dez. 1878 (Privatbrief), 6./18. Dez. (Dito). Wien. In dem letzteren heißt es: „Ich glaube, daß die am Schlüsse meines ganz ergebensten Privatschreibens vom 4. Dezember/22. November ausgesprochenen Anschauungen über die Art und Weise, wie hier nun die Geschäfte des Auswärtigen Amtes geführt werden sollen, nicht unrichtig waren. Zwar spricht man davon, Herr von Giers werde den Titel 143