Historische Blätter 5. (1932)
Georg Wittrock: Gorčakow, Ignatiew und Šuwalow
Giers mußte abwarten, aber eigentlich stand er in der auswärtigen Politik als der nächste Mann des Kaisers da. Die Berliner und Wiener Kabinette hatten nicht Ursache, sich zu beklagen: wenigstens hätte Alexander II. von ihrem Gesichtspunkte aus eine viel schlechtere Wahl tun können. Giers gehörte, wie Langenau hervorhebt, jedenfalls den moderaten Elementen im Ministerium an. Schweinitz widmet ihm eine hübsche und zudem unleugbar recht treffende Charakteristik. Ohne durch Phrasen oder neue Ideen glänzen zu wollen und ohne der herrschenden Meinung des Tages zu schmeicheln, ebenso frei von Übermut wie von Kleinmut, sei Giers unter allen Wandlungen der militärischen und der diplomatischen Kampagne ruhig seinen Weg gegangen, von einer richtigen Auffassung des Verhältnisses Rußlands zu Deutschland geleitet; er verteidige jetzt bei dem Kaiser die Ansicht, daß Rußland den Zweck des Krieges, nämlich eine Besserung des Schicksals der Christen in der Türkei, erreicht habe, und daß diese Tatsache feststehe, unabhängig von vorübergehenden diplomatischen Mißerfolgen128. Es war eine Anschauung, die in dem Maße, als sie sich geltend zu machen gelang, Öl auf die Wogen des Zornes in russischen Zeitungen und in weiten Kreisen des russischen Volkes zu gießen geeignet war. Aber wenn Giers’ Absichten demnach die besten waren, war er kein starker Mann und kein überlegener politischer Führer, und die Krise unter den Mächten des Dreikaiserbundes, die 1879 zum offenen Ausbruch kam und zu neuen Verbindungen und neuen Gruppierungen der Mächte herüberleitete — eine Krise, der ein Suwalow möglicherweise vorzubauen oder eine andere Wendung hätte geben können — diese Wandlung abzuwenden, oder wenigstens zu lenken, stand nicht in seinem Vermögen. eines Ministers der Auswärtigen Angelegenheiten unter dem Fürsten Gortchakow als Reichskanzler erhalten. Doch glaube ich diess nach den neuesten Informationen die ich erhielt nicht. Der Kaiser will den gegenwärtigen Reichskanzler nicht kränken, aber wenn Herr von Giers diesen Titel auch nicht bekommt, so wird er doch factisch das Ministerium leiten. Er beklagt sich auch bereits darüber, daß Fürst Gortchakow durch seine lange Abwesenheit, während welcher er, wie Seine Durchlaucht sagt auf seinen eigenen Wunsch [im Original unterstrichen] nicht au courant der Geschäfte erhalten wurde, von nichts mehr weiß, und daß er (Giers) ihn immer zum Kaiser begleiten muß, um ihn zu suffliren. Solche Zustände aber können den Geschäften nur abträglich sein, und bestätigen mich immer mehr in der Voraussetzung, daß Fürst Gortchakow zwar nicht ganz bei Seite geschoben werden dürfte, Herr von Giers aber der Mann des kaiserlichen Vertrauens ist, und auch bleiben wird.“ 128 Schweinitz, Denkwürdigkeiten, II S. 33. 144