Historische Blätter 5. (1932)

Georg Wittrock: Gorčakow, Ignatiew und Šuwalow

einem „vertraulichen“ Briefe vom 10. Oktober zur näheren Prüfung auf, wie es scheint, zunächst infolge von Gerüchten von „Manifestationen“ für eine Verfassung in Odessa und Gesprächen mit dem Präfekten der Hauptstadt, General Trepow, den er wegen seiner konservativen Ge­sinnung und seines entschiedenen Widerwillens gegen alle panslawi- stischen Ziele hochschätzte. Trepow sah es nicht nur als selbstverständlich an, daß dem Abschluß des Krieges kräftige Rufe nach einer Konstitution nachfolgen würden, sondern er fügte bitter und nicht ohne richtige Einsicht hinzu: „Und der Kaiser wird sie auch geben.“ Aber nach der Ansicht des Stadtpräfekten konnte Rußland nur mit eiserner Hand regiert werden, wozu jedoch die gute, aber schwache Natur Alexanders II. seines Erachtens sich wenig eignete. Die Verfassungsforderungen gingen nach der eigenen Meinung des Botschafters teilweise von solchen aus, die Unruhe zu stiften wünschten, um dann im Trüben zu fischen, und diese wußten also sehr wohl, was sie wollten; der großen Mehrzahl war es dagegen nach seiner Auffassung eine Zauberformel, die man gedanken­los wiederholte, ohne darüber nachzusinnen, daß eine Konstitution nach der wahren Bedeutung des Wortes und nach westeuropäischer Schablone nur zu „chaotischen Zuständen“ führen könne, da Rußland noch lange nicht für dasjenige reif sei, was sich in anderen Ländern im Laufe von Jahrzehnten oder Jahrhunderten langsam herausgebildet hatte 106. Von vielen („vielfach“), schreibt Langenau, wird hier die Rückkunft Graf Peter áuwalows nach Rußland gewünscht, aber nicht als Chef der dritten Sektion, sondern als Reichskanzler. Die europäischen Kabinette könnten sich, nach der Überzeugung des Generals, zu einer solchen Wahl nur beglückwünschen, denn unter allen, die als Nachfolger Fürst Gorcakows genannt worden, sei Graf Suwalow gewiß der geeignetste Kandidat107. * * s*c Es ist nicht unsere Absicht, die Ereignisse des Jahres 1878 hier näher zu untersuchen: die russisch-türkischen Friedensverhandlungen, die europäischen Verwicklungen nach der Abmachung, die in San Stefano von der Übermacht diktiert wurde, oder die „ehrliche Maklerschaft“ Bismarcks auf dem Berliner Kongresse. Wir wollen nur den Wettkampf zwischen den beiden bekanntesten Diplomaten Rußlands bis zu dem Zeitpunkte verfolgen, wo die Aussichten beider auf das hohe Amt Fürst 106 Langenau an Andrássy 28. Sept./10. Okt. 1877 (Privatbrief). Wien. 107 Derselbe Brief. Vgl. Langenau an Andrássy 12./24. Okt. (Privatbrief), 2./14. Dez. (Dito), Wien: unten S. 131, Note 108. 130

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