Historische Blätter 5. (1932)
Georg Wittrock: Gorčakow, Ignatiew und Šuwalow
Der „kolossale Chauvinismus“, der nach dem Fall von Kars und unter dem Eindruck einer besseren Lage bei Plewna aufflammte und der ganz besonders in Moskau einen günstigen Herd fand, wurde in pan- slawistischen Blättern eifrig gepflegt und ging in einer Moskauer Zeitung („Zeitgenössische Nachrichten“103) so weit, daß man da, außer der Herrschaft über das Schwarze Meer und der türkischen Flotte, Besatzungsrecht sowohl in den Meerengen wie in der Marmarasee und daneben eine Gebietserweiterung in Asien, die ganz Mesopotamien umfassen sollte, begehrte. „Exorbitante Forderungen“ wurden sogar in dem maßvolleren „Golos“ vorgebracht und sofort in der Presse der habsburgischen Monarchie in ein scharfes Licht gestellt, wurden aber in einem folgenden redaktionellen Artikel abgeschwächt. Weniger merkwürdig war es — trotz einer herben Antwort in der britischen konservativen „Morning Post“ — daß „Nowoje Wremja“ seinen Wunsch aussprach, das jetzt zum dritten Male mit Waffengewalt eingenommene Kars möge nunmehr endlich unter der Botmäßigkeit des Eroberers verbleiben dürfen 104. Als Graf Suwalow voraussagte, daß ein langwieriger Krieg innere Erschütterungen nach sich ziehen würde, sprach er damit einen Gedanken aus, der vielen aufmerksamen Zuschauern nahelag. Man hatte dabei sowohl mit konstitutionellen Bestrebungen innerhalb der gebildeten Klassen als mit den rein revolutionären Absichten des Nihilismus zu rechnen. Gewisse Symptome kamen früh genug zum Vorschein: schon im April wurde „Golos“ von dem Minister des Innern auf zwei Monate eingezogen, weil das Blatt die Ernennung einer zahlreichen Schar Kontrolleure über die Vorratseinkäufe bei der Armee mit der Reflexion begleitet hatte, eine solche Kontrolle könne wirksam werden, nur wenn sie nicht von der Regierung, sondern von der Nation ausgehe. Eine ziemlich scharfe Kritik des von dem offiziellen Regierungsorgane erstatteten Berichtes über die zweite Plewnaschlacht zog derselben Zeitung Anfang September eine neue Verwarnung zu 105. Langenau nimmt die Frage in handlungen aufgestellt und zurückgenommen. — Der Verfasser war wahrscheinlich Fürst Alexander Ilarionowic Wasilcikow (Wasil’cikow, 1818—1881), der Sekundant Lermontows im Duell von 1841, später ein namhafter Schriftsteller über nationalökonomische Gegenstände und andere allgemeine Fragen. 103 „Sovremennyja Izwestija“. 104 Langenau an Andrässy 22. Nov./4. Dez., 9./21. Nov. („Zeitgenössische Nachrichten“, „Neue Zeit“), 14./26. Nov. („Golos“ No. 273), 22. Nov./4. Dez. (maßvollerer Artikel in derselben Zeitung), 7./19. Dez. (Graf Orlow-Dawydow, Besitzer großer Landgüter im südlichen Rußland, von dem Chauvinismus in Moskau). Wien. 105 Langenau an Andrässy 20. April/2. Mai, 28. Aug./9. Sept. 1877. Wien. 9 129