Historische Blätter 5. (1932)
Georg Wittrock: Gorčakow, Ignatiew und Šuwalow
Entschieden Protest legte der leitende Minister der Doppelmonarchie in einem Punkte ein: dem ersten, der die Bedingungen für die Annexion Bosniens anging. Er versagte sich dabei nicht, von der Erklärung Fürst Gorcakows auszugehen, daß er keinen Gegenantrag vorlege, sondern nur gewisse Nuancen als Schutz gegen Mißverständnisse einzuführen wünsche, und damit in einer durchsichtigen Andeutung die Aussage vom Dezember zusammenzustellen: „C’est le principe et l’esprit de cette convention plutöt que sa lettre qui en constituent la valeur aux yeux de l’Empereur“ — von Andrässy noch durch das biblische Zitat unterstrichen: „verbum occidit, Spiritus vivificat“. In der Sache macht er geltend, daß Rußland, nachdem es in Bulgarien seine Aufgabe erfüllt habe, nachdem es der Provinz Frieden und nationale Institutionen gegeben, ohne Schaden ein Land räumen könne, das die notwendigen Voraussetzungen für ein selbständiges Dasein besitze8G. Bosnien und die Herzegowina — der Minister kehrt hier zu einem Gedanken zurück, den er schon oft verfochten hatte — entbehren der Elemente, die, um ein eigenes Leben zu führen, nötig sind. Sich selbst überlassen, würden sie ein Gegenstand der Begier anderer und zugleich ein Mittelpunkt rivalisierender Bestrebungen werden, einen großen südslawischen Staat zu schaffen, ein ständiger Herd revolutionärer Ränke. Wenn sie Österreich okkupiert, muß es geschehen, um dort eine endgültige Ordnung der Dinge aufzurichten. — Graf Andrässy findet überdies, daß es schwierig werden könne, die Phrase „dissolution de l’Empire Ottoman“ zu deuten: Wann beginnt diese Auflösung? Wann ist sie vollendet? Ein Reich löst sich nicht in einem Tage auf. Es steht mit diesem österreichischen Standpunkte in Übereinstimmung, daß man in der fertigen Konvention die Fassung findet: „les remaniements territoriaux que la guerre ou la dissolution de l’Empire Ottoman pourrait avoir pour résultat.“ Das Schreiben an Langenau, mit den Zugeständnissen und den Gegenforderungen Österreichs, vom 28. Februar datiert, ging laut Stol- berg am 1. März ab. Die Aufnahme in St. Petersburg war ungnädig. Gorcakow erklärte, „die ganze Sache sei jetzt nicht actuell und habe Zeit“. Andrässy, noch ungewiß, wie die Ereignisse sich entwickeln würden, betrachtete diese scheinbare, überlegene Gleichgültigkeit als Beweis einer „kopflosen Politik“, die den damals getriebenen ignatiew- schen Verhandlungen in den Hauptstädten Europas und sonderlich in London zuliebe andere, für die Zukunft wichtige Fragen außer acht 86 86 Vgl. Goriainow, a. A., S. 334 f. 117