Historische Blätter 5. (1932)

Georg Wittrock: Gorčakow, Ignatiew und Šuwalow

seit vielen Jahren in Europa ein gründliches Mißtrauen zur russischen Politik im Orient, das gewissermaßen „historisch“ geworden sei, und die Wahl Ignatiews sei dem Fürsten daher nie glücklich vorgekommen, weil gerade jenem, vielleicht in mancher Beziehung mit Recht, jedes Zutrauen bei allen europäischen Kabinetten fehle74. An anderen Stellen hieß es, daß Ignatiew in London, nach allen eingelau­fenen Nachrichten, ein vollkommenes Fiasko erlitten hätte, nicht nur politisch, sondern auch in sozialer Hinsicht, und Langenau stellte sich vor, daß seine sehr ungenierte Sprache manchen britischen Staatsmann mit Schaudern erfüllt haben dürfte. Jedenfalls triumphierten die zahl­reichen Feinde des Generals in Petersburg — nicht zum mindesten unter den gegenwärtig und früher dem Staatskanzler unterstellten Beamten. Der vorige Direktor des „Asiatischen Departements“, Stremouchow, hatte vor kurzem von dem so oft getadelten Mangel Ignatiews an Wahr­heitsliebe gesprochen, der im ganzen Lande berüchtigt sei; jetzt sagte Baron Jomini dem französischen Botschafter Le Flö, daß sein Mißlingen wenigstens eine gute Seite habe, die nämlich, daß es vermutlich noch auf lange Zeit dem ehrgeizigen Diplomaten den Eintritt in das russische Außenministerium verschließen werde. Es würde merkwürdig sein, wenn Kaiser Alexander ihn nach diesem Fiasko nicht fallen ließe. Freilich besitze Ignatiew am Hofe in mächtigen Verwandten und Protektoren eine starke Stütze, aber alle diese müßten doch nachgerade einsehen, daß sein ganzer Charakter ihn weder zu einer so delikaten Mission noch zum Staatskanzler eigne und daß seine Wahl zum Nachfolger im Falle des Abgangs Fürst Gorcakows nicht glücklich wäre 75. In den schweinitzschen Denkwürdigkeiten findet man dieselbe Auf­fassung vom Ziele der Bestrebungen Ignatiews, obschon die Angabe sich bei ihm auf einen etwas früheren Zeitpunkt bezieht — auf die Zeit der Auseinandersetzung der Großmächtebotschafter mit dem türkischen Mi­nister der auswärtigen Angelegenheiten im Januar 1877. „Fürst Gortscha- kow glaubte, seinen Ruhm, General Ignatiew seine Zukunft und die Nach­folgerschaft des Kanzlers sich zu sichern, wenn ein friedlicher Ausweg gefunden und die Schuld des Mißerfolges auf Europa geschoben werden konnte.“ Im Gegensatz zu Langenau hat sich der deutsche Botschafter die Vorstellung zu eigen gemacht, daß es der Wunsch des Staatskanzlers 74 Langenau an Andrássy 11./23. März und Privatbrief 25. März/6. April 1877. Wien. 7B Langenau an Andrássy 25. März/6. April (Postskriptum), Privatbrief 19./31. Jan. (Stremouchows Äußerung). Wien. 110

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