Historische Blaetter 3. (1921-1922)

Eduard v. Wertheimer: Neues zur Orientpolitik des Grafen Andrássy (1876-1877)

gegeben hatte, nicht in Konstantinopel einziehen zu wollen, ver­mochte er doch nicht der Versuchung zu widerstehen, auf der Haga Sofia das Kreuz aufzupflanzen1. In vollen Zügen gedachte er das Gefühl der Befriedigung zu genießen, dem Todfeind den Fuß auf den Nacken zu setzen. Nachdem die russischen Truppen nur mit Hilfe der Rumänen die Türken besiegt, diktierte Großfürst Nikolaus, der Ober­kommandierende des russischen Heeres, vor den Toren Stambuls am 3. März 1878 den Frieden von San Stefano, der mit den Abmachungen von Reichstadt in grellstem Widerspruch stand. Kaiser Franz Josef war über dieses allen mündlichen und schriftlichen Verabredungen hohnsprechende Vorgehen des Zaren, nicht minder empört als Graf And rássy, der ausrief: „Rußland hat falsch gespielt !“2 Beide, der Kaiser und sein Minister, waren nicht gewillt, den Frieden von San Stefano, das Produkt gröbster Verletzung gegebener Zusagen, zu dulden und anzuerkennen. Ganz Europa war einig darin, das Werk des über­mütigen Siegers über die Türken aus der Welt zu schaffen. Vor den Schranken des Berliner Kongresses, den Graf Andrássy zur Beseitigung des Friedens von San Stefano angeregt hatte, mußte Rußland seine Zustimmung zur Abänderung und teilweisen Umgestaltung desselben erteilen. Nach der damaligen Lage der Weltverhältnisse hatte Graf Andrássy den Erfolg für sich zu, verzeichnen, daß es Rußland nicht gelungen war, mit hinterlistiger Außerachtlassung der von ihm unter­fertigten Verträge, sich zum Herrn des Balkans zu machen und Österreich-Ungarns Einfluß daselbst zunichte zu machen. Mächtiger und stärker als je war nach dem Berliner Kongress das Ansehen der Monarchie im Orient. Andrássys Politik hatte über die Rußlands triumphiert. Europa erlebte das seltene Schauspiel, daß jetzt in Berlin, während der Tagung des Kongresses, Serbien, auf Geheiß Gortschakows, sich, anstatt um die Gunst des Zarenhofes, um die der durch Andrássy vertretenen Monarchie bewerben mußte. Seinen Nach­folgern auf dem Wiener Ballhausplatze war es beschieden, sein mit großer Genialität und schwerer Gedankenarbeit aufgerichtetes Ge­bäude zum Einsturze zu bringen, Rußland wieder zu einem starken Machtfaktor auf dem Balkan, Serbien und Montenegro aber zu einem auf jeden Wink Rußlands bereiten Vorpostenvasallen in einem bevorstehenden Kriege gegen Österreich-Ungarn zu machen. Wer will, kann daraus die Konsequenzen für den Weltkrieg ziehen. 1 Plehn: a. a. 0., S. 112. 2 Wertheimer: a. a. O., Bel. Ill, S. 70. 31 463

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