Historische Blaetter 3. (1921-1922)
Eduard v. Wertheimer: Neues zur Orientpolitik des Grafen Andrássy (1876-1877)
kommen sollte für eine Aktion der Moment der Auflösung der Türkei abgewartet werden. Gerade das Gegenteil wollte man in Petersburg. Sehr richtig bemerkte Andrássy, es wäre „Selbsttäuschung“, die für das Zusammengehen beider Teile, also für Österreich-Ungarn und Rußland, gefährlich werden könnte, wenn sich die Monarchie dem Glauben hingeben wollte, daß bei dem von Petersburg aus geplanten Unternehmen der „positive Aktionszweck“ noch immer ein gemeinsamer sein könnte. Freilich fügte Andrássy erläuternd hinzu, bestehe trotzdem noch ein gemeinsames Ziel von hoher Wichtigkeit. Allerdings nicht mehr in positiver, sondern in negativer Richtung. Und zwar darin, daß eine Kollision zwischen beiden Reichen um jeden möglichen Preis vermieden werde. Diese Rücksicht bildete jetzt den vornehmsten Gesichtspunkt, der für die Beschlüsse des Wiener Kabinetts maßgebend war. Wollte Alexander einseitig Vorgehen, so sollte doch allen Gefahren begegnet werden, die aus einem Gegensatz zwischen den beiden Kaiserstaaten entspringen könnten. Andrássy meinte, daß bei einem Zwiespalte zwischen Österreich-Ungarn und Rußland sehr gewichtige, für die Ruhe des Weltfriedens nicht außer acht zu lassende Interessen bedroht seien. „Ohne dieses Zusammenhalten“ — lauten seine Worte — „würde die monarchische Idee in Europa ihre stärkste Stütze verlieren, die Völker einem blinden Rassentriebe überlassen und Europa leicht einem Kriege durch Generationen ausgesetzt werden.“ Es gab noch andere Gründe, die Andrássy von einer Kooperation mit Rußland abhielten. Er machte kein Hehl daraus, daß die öffentliche Meinung Österreich-Ungarns jeden Versuch', die Auflösung der Türkei zu beschleunigen, als gegen das Interesse der Monarchie gerichtet erachte. Keine Regierung vermöchte sich gegen den Sturm der Leidenschaften in den Parlamenten zu halten, wenn sie diese Forderung der öffentlichen Stimmung übersehen wollte. Wenn jedoch Andrássy auch nicht die Hand zur frühzeitigen Vernichtung der Türkei zu bieten gedachte, war er doch gesonnen, sich keiner diplomatischen Aktion anzuschließen, die geeignet wäre, Rußlands isoliertes Vorgehen gegen die Pforte zu vereiteln oder zu hemmen. Aus diesen Erwägungen ging seine Bereitwilligkeit zu Unterhandlungen mit Rußland über den Abschluß einer geheimen Konvention hervor. Der österreichische Gesandte Freiherr v. Langenau erzählt in seinem Memoire, daß er in der zweiten Hälfte 'November 1876 einen vertraulichen Bericht nach Wien sandte, worin er unter Berücksichtigung der guten Stimmung in Petersburg angeraten habe, es nicht bloß bei den Reichstadter Besprechungen bewenden zu lassen, sondern auch o* 49