Historische Blaetter 2. (1921)

Viktor Bibl: Das Don Carlos-Problem im Lichte der neuesten Forschungen

aller seiner Verfehlungen — von selbst beheben und er könnte an der Seite einer erfahrenen Person für seinen künftigen Beruf sich vorbereiten1. Das war von dem Diplomaten naiv (S. 96); denn in seiner verbitterten Stimmung hätte er unheilvoll wirken können. Auf diesen verhängnisvollen Zirkel habe ich — was Rachfahl ver­schweigt — mehrmals nachdrücklich hingewiesen2; Aber warum hat der König in einem« früheren Stadium, als der Prinz noch nicht verzweifelt, als er noch gutgeartet war, diese Art der Verwendung, welche die Niederländer selbst verlangten, unterlassen? Der Entschluß, Don Carlos unschädlich zu machen, stand ja, wie Rachfahl Schmidt und mir einräumte, schon um 1560 festi Hier liegt also der Schwerpunkt des ganzen Problems, das freilich für Rachfahl nicht existiert, denn die Klagen der Erzieher beweisen es ja, daß der Infant indolent und unreif war. Die Klagen der Erzieherl Wären das untrügliche Beweise, dann würde auch Joseph II. indolent gewesen sein3, gar nicht zu reden von dem armen Herzog von Reichstadt, über dessen unbändige Zornesausbrüche, unreife Ideen, eigentümlichen Geist, Faulheit, Starrsinn, religiöse Lauheit und Rückständigkeit in seiner physischen, moralischen und intellektuellen Entwicklung* Graf Dietrich- stein und Collin beständig klagten und der trotzdem dinem Prokesch so gut gefiel!1“ — der geistvolle Diplomat hatte eben nicht die Furcht vor dem Geiste Napoleons! Über die Ursachen des Zerwürfnisses zwischen Vater und Sohn haben sich schon die Zeitgenossen den Kopf zerbrochen und verschiedene Erklärungen versucht, unter anderem die Liebe des Don. Carlos zur Königin, seiner früheren Verlobten. Da sich die Geschichtsschreibung auch mit dieser Frage, die ún den Mittelpunkt des Schiller-: sehen Dramas gerückt ist, beschäftigt hat, so hielt ich es für meine Pflicht, auch ihr näher zu treten und, ohne im entferntesten den Tatbestand von erotischen Be-: Ziehungen als quellenmäßig bezeugt anzusehen, die gegen die Annahme eines Liebes­verhältnisses ins Treffen geführten Einwände als nicht stichhältig zu erweisen5. Rachfahl, der ebenfalls dazu Stellung nimmt, beruft sich auf die Erzählung des französischen Gesandten St. Sulpice, derzufolge der Infant während) einer ländlichen Wagenfahrt auf die Frage seiner Stiefmutter, an wen er denke, die Antwort gab: An meine Base. Man sieht daraus, daß er in Elisabeth nicht verliebt war, folgert Rachfahl (S. 35). Sieht man das wirklich? Der Bericht des Gesandten, der übrigens eine schön erfundene Geschichte vorgetragen haben kann, ist vom 9. September 1565 datiert; die Königin weilte seit Jänner 1560 am spanischen Hofe. Was kann sich In diesen fünfeinhalb Jahren zwischen den beiden,, die von allem Anfang an, wie auch Rachfahl zugibt, in „überaus herzlichen“ Beziehungen standen, zugetragen haben! Und dann: genügt nicht, wie jeder mit der Psychologie der Eifersucht Vertraute be­stätigen wird, der bloße Verdacht unerlaubter Beziehungen, um den König, der als argwöhnisch und eifersüchtig galt, gegen Don Carlos aufzubringen? Übrigens gäbe die Nachricht desselben Gesandten, daß der König einmal dem Infanten den Zutritt in die Gemächer Elisabeths verbot, wirklich zu denken. Dazu dann die Mitteilungen des Nachfolgers St. Sulpices aus dem Jahre 1567, daß in dem Maße, als sich das Verhältnis von Vater und Sohn schlechter gestalte, das des Don Carlos zur Stiefmutter herzlicher wurde! Kann man da sagen, daß die Vermutung eifersüchtiger Empfindungen des Vaters gegen den Sohn nicht nur allen quellenmäßigen, sondern auch sachlichen * Anhaltes entbehrt? (S. 35.) So kann man natürlich alles beweisen und alles bestreiten, doch die Don Carlos- Forschung kommt dabei um keinen Schritt weiter: die Anschauungen — um an Belows schönes Eingangswort zu erinnern — vertiefen sich nicht, wohl aber die Gegensätze. Das durchwegs mit den Augen Philipps II. gesehene Zerrbild des Don Carlos, wie es Rachfahl ganz im Geiste Maurenbrechers und Büdingers entworfen hat, wird und muß wieder zu stärkerer Betonung der für den Infanten sprechenden Momente herausfordem, bis einst der vom Dichter erträumte, auch für geschichtliche Streitfragen geltende Idealzustand geschaffen ist: Wo Parteien entstehen, hält jeder sich hüben und drüben, Viele Jahre vergeh’n, eh’ sie die Mitte vereint. 1 Bibi, Der Tod des Don Carlos, S. 322. 2 Ebenda, S. 186, 248. 3 Guglia, Maria Theresia, II., S. 193 f. 1 Wertheimer, Der Herzog von Reichstadt, S. 37, 288, 292, 306, 309, 403, 409. 6 Bibi, Der Tod des Don Carlos, S. 179 ff. 341

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