Historische Blaetter 2. (1921)

Carl Brinkmann: Neue Bücher. Das österreichische Staats- und Reichsproblem

Neue Bücher Das österreichische Staats- und Reichsproblem von Carl Brinkmann. Kein Schlagwort ist heute so häufig und in der Tat kein Bedürfnis so dringend wie die Politisierung unseres mitteleuropäischen Daseins mit der Hilfe der Staats­wissenschaften. Und doch scheint kein Bestreben so schwer Richtung und Organi­sation zu finden. Kaum hat der Weltkrieg das völlige Versagen der individualisti­schen Geschichtsschreibung, der autoritären Staatsrechtslehre und der privatwirt­schaftlichen Nationalökonomie vor den großen Völkerschicksalen dargetan, da kommen in der Wissenschaft-wie in der politischen Praxis durch Hintertüren und in Verkleidungen alle die alten unfähigen Erkenntnis- und Darstellungsmittel wieder, an denen wir nicht zuletzt gescheitert waren, höchstens noch verbrämt mit schlechtem Journalismus, der ihnen auch die letzte Rechtfertigung, eine gewisse ungeschickte Ehrlichkeit nimmt. Wie persönliche Verherrlichungen und Rechtferti­gungen die Geschichte, so beherrschen Partei- und Geschäftsinteressen das syste­matische Vertändnis der jüngsten Vergangenheit. Die Behandlung der leidigen Kriegsschuldenfrage ist nur eines der vielen toten Gleise, auf die die besten Kräfte des nachkriegerischen Geisteslebens, der allgemeine Drang nach politischer Anteil­nahme und Verantwortung, verschoben zu werden drohen. Lange vor allem Streit der „Werturteile“ ist das Problem der Rechenschaft über­staatliche und gesellschaftliche Entwicklung zunächst ein methodisches. Man merkt es an den krampfhaften Experimenten der neuen politischen Hochschulen, Vortrags­kurse und Seminare, daß gerade da die Hauptquelle der Wirrnis fließt. Wie viele unter den Lehrern und Planem dieser für die politische Bildung des nächsten Ge­schlechtes vielleicht wirklich entscheidenden Anstalten haben sich ohne alle Be­schränkungen des Blicks durch Partei-, aber auch durch Fachgesichtspunkte ganz schlicht und ruhig gefragt: Auf welche Dinge und Verbindungen von Dingen in der unendlichen Mannigfaltigkeit des staatlichen Geschehens hat die Betrachtung auszu­gehen, und welche Kenntnisse und Erfahrungen sind demgemäß Vorheding-ung für diese Betrachtung? Kann z. B. der gewöhnliche Archivbenützer ohne Erlebnisse in Staatsdienst und Parlamentarismus auch nur die äußerlichsten Entstehungsvorgänge seiner Akten begreifen? Oder: Wie weit reichen für eine Erfassung der staatlich- gesellschaftlichen Wirklichkeiten hinter den Akten die heute bei uns vorwiegen­den Einstellungen des Formaljuristen, des praktischen Volkswirts und des feuilleto- nistischen Beobachters von „Land und Leuten“ aus? Die Verspätung demokratischer Lebensformen in Mitteleuropa hat eben leider weithin die Folge gehabt, daß selten oder niemals wie in den westeuropäischenLändern . politisch geschulte gesellschaftliche Oberschichten alle nachdringenden Elemente in gewissem Maße sich und ihrer Kultur angeglichen haben, sondern daß umgekehrt der starre Wall obrigkeitlicher Staatsgesinnung auch theoretisch einem neuen Staatsdenken nicht nachgeben und es damit auf eine Art in sich auf nehmen, sondern nur noch vor ihm umfallen konnte. So nahe es rein äußerlich dieser gestrigen mitteleuropäischen Staatslehre lag, die geistig weitaus fruchtbarste Bil­dungsepoche neuester Staatsgeschichte, Achtundvierzig, in den Schatten zu stellen und gleichsam zu überspringen*), so bitter sollte sich die darin ausgedrückte Trägheit und Mutlosigkeit rächen, als mit dem Weltkrieg nicht nur die Ideen von 1789, sondern entscheidender und gefährlicher die Realitäten von 1848 von innen wie von außen neubelebt vor ihr aufstiegen. Und deshalb ging die Rache auch viel weiter als nur bis zur Zertrümmerung der alten politischen Denkformen: Sie schlug die Entstehung neuer mit dem Fluch einer eigentümlichen Unfruchtbarkeit. Während in England Tories und Whigs, in Frankreich Revolution und Restauration *) Vgl. hiezu m. Aufsatz: Neues vom neuen Reich, Neue Rundschau 1916, S. 970 ff.

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