Historische Blaetter 2. (1921)

G. v. Below: Zur Geschichte der deutschen Geschichtswissenschaft

sehen Geschichtsauffassung sei und was sich von ihr allenfalls halten lasse. Die marxistische Auffassung ist wissenschaftlich in allen ihren Teilen widerlegt; gerade auch die Unterbau-Überbaulehre ist unhalt­bar, ebenso geschmacklos wie sachlich > unbegründet. St. Beuve, glaube ich, sagt einmal, er habe, nachdem er Guizot mit seinen bestän­digen Raisonnements gelesen, aus Überdruß daran die Memoiren des Kardinals de Retz zur Hand genommen, um zu sehen, wie wirkliche Geschichte ist. Wie viel mehr noch als auf Guizot läßt sich dies Wort auf Marx und die marxistisch beeinflußte Geschichts­literatur an wenden 1 So ist der Mensch und so ist die Geschichte ja gar nicht, wie diese Leute meinen oder behaupten. Das Streben nach Macht und Geltung einerseits, der Antrieb auf Beseitigung von Ungleichheiten anderseits, der Groll über widerfahrene oder vermeintliche Zurücksetzung, der Geltungswillen, der Wunsch sozialer Wertschätzung, das Verlangen nach Macht, Erfolg, Würde, Bedeutung innerhalb der Gesellschaft, das Gefühl der Minderwertigkeit und die Freude am Kampf um höhere Geltung, Trägheit, Traditionalismus des Einzelnen wie der Gruppe, Freude über rein ideelle Errungen­schaften, Freude an der sauber durchgeführten Arbeit ohne Blick auf den zu erwartenden wirtschaftlichen Lohn, Unabhängigkeits­streben und Eitelkeit, Unsterblichkeitswunsch in mannigfaltigen Formen — diese „Ureigentümlichkeiten menschlicher Affektivität“ üben als Motoren der Geschichte die große Wirkung1. Sie stellen 1 Vgl. Roffenstein a. a. 0., S. 105. Roffenstein, der, wie er S. 78, A. 1, mitteilt, mehr­fach Gedanken Max Webers aus dessen im Sommer 1918 in Wien gehaltenen Vor­lesungen und Kolloquien übernimmt", bietet in der im Text angedeuteten Richtung- wertvolles zur Kritik der marxistischen Geschichtsauffassung. Treffliche Bemerkun­gen gegen die von Tröltsch anerkannte marxistische Unterbau-Überbautheorie und ihre äußerlich schematische Art auch bei Roscher-Pölilmann, Grundlagen a. a, 0. Lehrreich weist Roffenstein z. B. an der Haltung der Ostjuden darauf hin, daß die marxistische Geschichtserklärung versagt (S. 98). Ed. Winkelmann, Jahr­bücher Kaiser Friedrichs II, Bd. 2, S. 435, führt die gewaltige Bewegung, die mit dem 13. Jahrgang einsetzt (Wachstum der Städte und ihr Ringen nach Selbstverwaltung, ostdeutsche Kolonisation, umfassenderer Ge­brauch der Volkssprachen, wachsende Abkehr von dem überkommenen Kirchentum usw.), im letzten Grund „auf das Verlangen nach mehr Raum und Freiheit für die individuelle Betätigung“ zurück. Der Marxist wird diese Motivation „sehr altmodisch“ finden und die angeblich „tiefere“ Begründung durch die wirtschaftlichen Ursachen Vorbringen. Wenn uns die Winkelmannsche Főnnel zu einfach ist, so erkennen wir doch an, daß sie gegenüber der gröberen Forme] des Marxisten den Vorzug der feineren und einer weiter greifenden Beob­achtung hat. — Tröltsch, Marxismus, S. 429, meint „interessante Beispiele“ für die Richtigkeit der marxistischen Unterbau-Überbautheorie u. a. in C. Neumann, Der Kampf um die neue Kunst, „Kunst und Publikum“ gefunden zu haben. Allein Neumann spricht nicht von unmittelbar ökonomischen Wirkungen, sondern faßt in der eben geschilderten Weise das ökonomische als Mittel für allgemein mensch­13

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