Historische Blaetter 2. (1921)

G. v. Below: Zur Geschichte der deutschen Geschichtswissenschaft

stellt, wenn er den „allgemeinen Geist“ bei jenen rühmt und nur bei ihnen zu entdecken meint, während nach Marx das Ökonomische sich mehr oder weniger automatisch nach vorwärts schiebt, so daß man nicht sieht, wie in solchen Darstellungen ein „allgemeiner Geist“ seinen tätigen Ausdruck finden kann, falls seine Aufgabe nicht die sein sollte, in sich verschlossen zu bleiben, so werden wir an das Verfahren der französischen Dichter erinnert, die nur noch bei vollendeten Kokotten echte Liebe und schöne Sittlichkeit fanden .(wobei wir natürlich nur das Maß der Übertreibung vergleichen). Der Unterschied ist jedoch der, daß diese Dichter ihre Schilderung wenigstens mit dem Schein der Wahrscheinlichkeit zu umgeben wußten, Tröltsch aber seinen Be­weis mit einem sichtbaren Salto mortale vollbringt. Selbst wenn Tröltsch von dem breiten, kräftigen Strom der Ge­schichtswissenschaft, wie sie sich seit der Romantik und von ihr aus entwickelt hat, nichts wissen wollte, hätte er doch Marx nicht die zentrale Stellung zuweisen dürfen, die er ihm gibt. Denn es stehen __ferner Rodbertus und Lorenz v. Stein im Weg, die vor Marx ihr© Anschauungen vortragen, von denen er bereits zehrt, die vor allem im Publikum auch ihre Auffassung verbreiten und Ansichten über soziale und wirtschaftliche Dinge geläufig machen, welche unabhängig von denen von Marx und sachlich zuverlässiger und einleuchtender sind. Bei Gneist hat dann Steins Auffassung eine Prägung erhalten, die zu­sammen mit der früher erwähnten Auffassung von Niebuhr schon allein für sich der Öffentlichkeit inhaltreiche Formeln für die Dis­kussion über die soziale Dynamik zur Verfügung stellte. Tröltsch würdigt auch gar nicht die Tatsache, daß Marx mit seinen speziell wirtschaftsgeschichtlichen Ansichten nicht beherrschender Führer ist, sondern innerhalb des Flusses der Bewegung stehtl. Es gehört zum Treppenwitz der Weltgeschichte, daß die Verehrer des Kollektivi- sten Marx zu seinen Gunsten den kollektiven Fluß unterbrechen, ihn außerhalb des Flusses der Entwicklung der Masse stellen2. 1 Siehe meine „Geschichtsschreibung“, S. 159 ff.; F. Lenz, S. 143. 2 Auch H. Freyer, Die Bewertung der Wirtschaft im philosophischen Denken, S. 90, behauptet mit seiner Bemerkung, daß „die Fremdheit zwischen den idealisti­schen Denkformen und der ökonomischen Welt, die bis Hegel andauerte, in Marx in ihr Gegenteil umschlägt“, eine zu isolierte Stellung von Marx. Jene „Fremdheit“ war in dem hier behaupteten Maß nicht vorhanden. Anderseits gesteht Fr., S. 94, mit Recht zu, daß es „historischen Materialismus sowohl als geschichtsphilosophi­sche Theorie wie als geschichswissenschaftliche Praxis auch vor Marx gegeben hat“. Es kommt jedoch nicht bloß auf reinen „Historischen Materialismus“ an, son­dern mehr noch auf die vor Marx vorhandene ausgiebige Würdigung der wirt­schaftlichen Tatsachen ohne materialistischen Zug, die das Gegenteil jener „Fremdheit“ bildet.

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