Historische Blaetter 2. (1921)

Carl Brinkmann: Neue Bücher. Das österreichische Staats- und Reichsproblem

den Boden ihres Staatslebens in die ganze Tiefe wissenschaftlicher Ergründung und in die ganze Breite öffentlicher Anteilnahme um und um gepflügt hatten, gab es in Deutschland außer einer immer dünner werdenden, zuletzt in der Regierung Bethmann-Hollwegs verkörperten Überlieferung bureaukratischer Staatsweisheit keine lebendige Wechselwirkung zwischen allgemeiner Erkenntnis des Staates und allgemeiner Betätigung im Staat. Die bequeme, aber verhängnisvolle Gewöhnung an den in Bismarck dargestellten Typus des Helden und Führers hatte das Rationelle der Wissenschaft vom ritaat ebensosehr wie das ihm entsprechende Vertrauen auf Ausgleich und Zusammenarbeit in der politischen Praxis erstickt. In der österreichisch-ungarischen Hälfte der mitteleuropäischen Sphäre lagen diese Dinge zugleich schlimmer und besser. Die völkischen Gegensätze zwischen den einzelnen Ländern der Doppelmonarchie wiesen sie nicht bloß gegenüber den älteren Nationalstaaten, sondern auch dem Deutschen Reich gegenüber auf eine primitivere Stufe staatlicher Kultur, wo in der Regel von modernen Klärungen des politischen Bewußtseins noch viel weniger die Rede sein konnte als in Klein­deutschland. Aber gerade dies Beharren bei einem in Europa, sogar mit Einschluß Rußlands, sonst lange überwundenen Stadium der Staatsbildung, gleichsam noch mitten im unentschiedenen Ringen zwischen ständisch-dezentralistischer und bureau- kratisch-zentralistischer Regierungsweise, gewährte Österreich-Ungarn auf der andern Seite alle Vorteile einer tief im Mittelalter, in Volks- und Lehnrecht wurzeln­den, sozusagen vomeuzeitlichen Demokratie. Daher stammt, in Österreich von völ­kischer Mischung noch gesteigert, der bekannte Kosmopolitismus des österreichisch­ungarischen Hochadels, der dessen Mitglieder von jeher in ganz anderm Maße als den reichsdeutschen Adel selbst gleicher Besitzmacht zu Genossen der west­europäischen Aristokratien gemacht hat; daher die besondere demokratische volks­tümliche Färbung der österreichisch-ungarischen Nationalismen, auch und vor­zugsweise des im Reiche ja längst speziflsisch monarchisch und behördlich gerich­teten deutschen; daher endlich in der politischen Intelligenz der Habskburger-Mon- archie, in ihrem Beamtentum und ihrer Staatswissenschaft, eine gefühlweise über­kommene Liberalität der ganzen Haltung, die zwischen Gegensätzen, wie dem Josefinismus und der Metternichzeit, eine tiefere Gemeinsamkeit des Weitläufigen und doch auch wieder Volksmässigen stiftet. Es ist darum kein Zufall, daß in Österreich nach dem Zusammenbruch ein Werk entstanden ist, das mit dem ernsten Willen sowohl zu historischer Forschung als auch zu politischer Erkenntnis gerade die innere Vorgeschichte dieses Zusammen­bruches zu erforschen versucht ■— nicht in dem Sinne einer parteipolitischen An­klageschrift, sondern in dem ganz objektiven der Aufdeckung von Zusammen­hängen, die zwischen dem äußeren Schicksal eines politischen Gebildes und seiner inneren Wesenheit a priori bestehen müssen. Josef Redlich vergleicht sein Buch über das österreichische Staats- und Reichsproblem, dessen erster Band in einem darstellenden und einem Anmerkungen und Exkurse vereinigenden Teile vorliegt*), selber mit Tocquevilles Untersuchung der Grundlagen von Ancien Régime und Revolution. Der Vergleich ist ehrgeizig, aber nicht unzutreffend. Schon die Luft der halb ständischen, halb demokratischen Denkweise, die nach dem Gesagten um die politische Vergangenheit Österreich-Ungarns weht, begründet Ähnlichkeiten mit der Reflexion des großen Aristokraten, der durch eine merkwürdige, wenn auch geschichtlich tief begründete Fügung der gerechteste Erforscher und sozusagen Ein­führer der modernen Demokratie in die politische Theorie wurde. Aber nicht nur die Stimmung, auch die Methode der politischen Selbsterkenntnis Österreichs bei Redlich ist des großen französischen Vorbildes nicht unwürdig. Sie ist im besten Verstände des Wortes soziologisch, d. h. sie sieht staatliche Handlungen und Zustände nicht immer bloß als Erzeugnisse staatsmännischen Einzelwillens, sondern durchweg getragen von und zurückbezogen zu den Interessen und Gefühlen ganzer gesell­schaftlicher Kreise, Gruppen, Verbände und Klassen. Was Tocqueville immer wieder zum Erlebnis macht, die Art, wie politisches Leben aus den Institutionen fließend, aber auch wieder selbständig auf sie zurückwirkend gezeigt wird, bildet zweifel­los auch den Hauptreiz von Redlichs Darstellung. Gewiß, ihre Grundlage und ihr nächster Anlaß war das durch die Öffnung der staatlichen Archive seit der *) Leipzig 1920, Der Neue Geist Verlag. 814 und 258 S. 8°. 343

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