Historische Blaetter 2. (1921)
Carl Brinkmann: Neue Bücher. Das österreichische Staats- und Reichsproblem
Revolution in vollem Umfang ermöglichte Studium der Akten der österreichischen Zentralbehörden und namentlich der Ministerratsprotokolle, und für die zuletzt durch Friedjung historisch bearbeitete Zeit von 1848 bis zum Februarpatent 1861 liegt also hier zunächst eine Fülle neuen Quellenstoffs vor. Aber dessen Darbietung ist niemals Selbstzweck. Der Verfasser ist nicht umsonst ein Zögling jener geistigen und künstlerischen Kultur der Wiener Intelligenz, von deren Bedeutung für den inneren Zusammenhalt der Habsburgischen Länder er selbst wiederholt treffend zu reden weiß: Aus jeder Seite spricht die Freude an der eigenen gedanklichen und sprachlichen Gestaltung des Stoffes, ja nicht selten fühlt sich der Leser vom Strome dieser Gestaltung bald im Kreise gedreht, bald in unbestimmte Weiten davongetragen, und die Ausführlichkeit der Form, der starke Umfang der beiden Texthälften, deren Hauptgedanken noch dazu in den Anmerkungen und Exkursen vielfach wiederkehren, steht nicht immer im Verhältnis zu dem Ertrag, den der Fachmann nüchtern aufrechnet. Oft glaubt man eher ein hinreißend lebendiges. Kolleg mit allen seinen notwendigen Wiederholungen und Schattierungen zu hören, als einer Untersuchung vom Typus der eigentlichen Forschung, d. h. aufgebaut nach dem Grundsatz der wissenschaftlichen Sparsamkeit, zu folgen. Und diese Lockerheit der Formung enttäuscht die Erwartungen, die durch die klare begriffliche Einstellung des Blicks hochgespannt werden, mitunter gerade an Stellen, wo sich die entscheidende Überlegenheit solcher Einstellung über die hergebrachten Muster individualistischer Geschichtsschreibung am besten bewähren könnte. Wo wie bei den Folgeereignissen der Katastrophe von 1859 bestimmte Mittelpunkte wie die vom Kaiser geleitete Ministerkonferenz und der Reichsrat die kämpfenden politischen Strömungen gleichsam konkret verkörpern, zeigt die Darstellung mehr als einmal die Neigung, nach Art der älteren „politischen“ Historiographie zum kurzen Aktenauszug zu werden, anstatt der Sachlage entsprechend die vorangehenden oder folgenden zuständlichen Schilderungen eng mit diesen Staatsaktionen zu verbinden, jene in diesen gipfeln zu lassen oder umgekehrt diese fortlaufend durch jene zu erläutern. Alles in allem aber liegt hier doch der Anfang eines Werkes vor, das in der zwischen Rechts-, Verfassungs- und „politischer“ Geschichte streitigen und eingeklemmten deutschen Staatsgeschichte (wie K. F. Eichhorn sagte) und österreichischen Reichsgeschichte (wie es im Lehrbetrieb der Habsburger-Monarchie hieß) seinesgleichen nicht hat. Der einleitende Abschnitt über die geschichtlichen Grundlagen der österreichischen Reichs- und Staatsgewalt (jene wie hier durchweg als die der Doppelmonarchie, diese als die der österreichischen Reichshälfte verstanden) gibt in großen Zügen die Erklärung dafür, daß gerade ein landschaftlich und national so zusammengesetztes Staatsgebilde wie Österreich- Ungarn in seiner Dynastie und ihrem bureaukratischen Absolutismus das eigentlich vereinigende Element fand und damit neben den Monarchien Preußens und Rußlands als dritte in der Gruppe der östlichen Großmächte blühte und unterging. Mitten zwischen dem Gewirre des brandenburgisch-preußischen Territoriums und der Einheitlichkeit des russischen Staatsgebiets stellten die österreichisch-ungarischen „Länder“ einen dritten Typus monarchischer Staatsbildung aus Einheiten mittlerer Größe und Festigkeit dar, der nur in der Lücke zwischen den politischen Sphären des Germanen- und Slaventums, aber auch (das bisherige Mißgeschick der polnischen Reichsorganisation in derselben Lücke beweist es) so früh nur bei starkem Überwiegen des Germanentums möglich war. Wie jede Monarchie wurde auch die habsburgische durch zwei verschiedene Faktoren bestimmt: einmal das Herrscherhaus selbst mit einer Überlieferung von Gottesgnadentum und Landesväterlichkeit, wie sie in Österreich ja gerade während der langen Regierung Franz Josefs in voller Stärke fortgelebt hat oder besser wieder aufgelebt ist, sodann aber, für die Verwirklichung des monarchischen Willens unentbehrlich und sehr zu Unrecht von der absolutistischen Staatstheorie in den Schatten gestellt, die staatlich-behördlichen und gesellschaftlich-ständischen Organe und Kräfte, ohne deren Mitarbeit auch der durchgreifendste Despotismus auf keiner Entwicklungsstufe des Staates denkbar ist. Es ist ein großes Verdienst Redlichs, die Bedeutung des Deutschtums für die Schaffung solcher neben der Krone staatsbildenden Amts- und Gesellschaftsorgane in seinem Buche immer und immer