Historische Blaetter 2. (1921)
Berthold Molden: Das Schicksal der Deutschen und der Weltkrieg
Kammer, Chautemps, das Hauptziel der französischen Marinepolitik sei, Frankreich und seinen Verbündeten um jeden Preis die Beherrschung des Mittelländischen Meeres zu sichern. Deutschland müsse, wenn es im Norden blockiert sei, verhindert werden, sich mit Lebensmitteln und Rohstoffen von Süden her zu versorgen. Alle diese Tatsachen waren dem zeitunglesenden Publikum bekannt, und die Regierungen von Wien und Berlin wußten sicherlich noch mehr. In Berlin zum mindesten wußte man von dem Briefwechsel Grey-Cambon und den Verhandlungen über ein englisch-russisches Marineabkommen, vermochte also den Wert der im Parlament gegebenen ableugnenden Versicherungen zu beurteilen. Ein merkwürdiges Anzeichen erhielt man dort auch noch im vorletzten Augenblick. Admiral Tirpitz teilt uns einen Brief des deutschen Marineattachés in Tokio vom 10. Juni 1914 mit, in dem es heißt, er sei betroffen über die Gewißheit, mit der in Japan alle Welt den Krieg gegen Deutschland in naher Zeit für sicher halte. Man kann nun den Standpunkt einnehmen: Je düsterer das Bild, desto mehr war Zurückhaltung geboten; ein vorsichtiger Staatsmann hätte, statt den Ausbruch der Krise zu beschleunigen, Zeit zu gewinnen getrachtet, um zu versuchen, ob sich nicht in England eine Wandlung herbeiführen lasse. Dieser Standpunkt entsprach mehr der Lage Deutschlands, das durch das Attentat und seine Folgen wenigstens nicht unmittelbar getroffen war, und es tat daher sein Möglichstes, um den Ausbruch eines europäischen Krieges zu verhindern. Die vorliegenden Materialien beweisen dies reichlich. Aber getroffen war Deutschland doch auch, und zwar sehr bedenklich; denn in welche Situation kam es, wenn Österreich-Ungarn am Leben gefährdet wurde. Es erkannte denn auch die Notwendigkeit eines kräftigen Auftretens, das aber den Weltfrieden nicht stürzen sollte, an. Für den Fall, daß der Friede diesmal erhalten wurde und Rußland den Kampf später nicht an der österreichischen, sondern an der deutschen Front erzwang, durfte Österreich-Ungarn erst recht nicht als Gedemütigter dastehen und sich über das Ausbleiben der deutschen Freundeshilfe beklagen dürfen. In einem solchen Fall wäre ohnehin, bei aller Vertragstreue des Kaisers Franz Josef, die Wirksamkeit der österreichisch-ungarischen Bundesgenossenschaft zweifelhaft gewesen. Zwar die Deutschösterreicher wären natürlich mit voller Seele mitgegangen, bei den Magyaren hätte es aber schon Einwendungen gegeben, bei den Tschechen stürmischen Widerspruch. Ein Krieg unter solchen Vorzeichen wäre von vornherein verloren gewesen. Daran mußte man denken. Man mußte Österreich stützen ohne sich von ihm fortreißen zu lassen. Man war auf abschüssiger Bahn, aber Krieg war doch noch schlim-