Historische Blaetter 2. (1921)
Berthold Molden: Das Schicksal der Deutschen und der Weltkrieg
\ das Elsaß an, er aber zog Galizien, das ihm leichter zu halten schien, vor — das nahm Bismarck, als die Yolksstimme und die Stimme der Generäle es verlangte, an. Warum aber wendeten sich während der nun folgenden fünfzigjährigen Zugehörigkeit die Kreise, die man französisiert vorgefunden hatte, nicht dem doch so mächtigen und für die elsässische Industrie so wichtigen Deutschland in größerer Zahl wieder zu? Die Landbevölkerung und die, an Zahl immer wachsende Sozialdemokratie war dem neuen Verhältnis günstig; aber die sogenannten Notabein und die städtische Demokratie bildeten eine oppositionelle Minderheit, die nur langsam zusammenschmolz, die einen, weil sich die Anziehungskraft eines Zivili- sations- und Lebenszentrums in Paris nicht abschwächt, die andern aus Hartnäckigkeit oder weil Deutschland so undemokratisch, so „preußisch“ vor sie hintrat. Ein Annäherungsprozeß war immerhin merkbar, und als im Jahre 1912 den Elsässern weitgehende Selbstbestimmungsrechte verliehen wurden, erhoben die Chauvinisten in Frankreich einen gewaltigen Lärm, um die Wirkungen dieses vernünftigen Schrittes zu verhindern. Als aber der große Krieg ausbrach — nicht lange vorher hatte es den peinlichen Zwischenfall in Zabern gegeben —, sah man in Deutschland mit Sorge auf die Elsässer. Speziell Preußen, die führende deutsche Macht, hatte sich als ungeeignet erwiesen, einen deutschen Volksstamm, der so lang mit Frankreich vereinigt gewesen war, innerlich zu gewinnen. Mit der Eleganz und Leichtigkeit des französischen Wesens konnte das eckige und knarrende preußische nicht konkurrieren, und das „Liberté, Egalité, Fraternité“, das in der französischen Republik an allen Straßenecken prangte, erschien wie eine frohe Botschaft neben den strengen Glaubensartikeln der hohenzollernschen Monarchie. Jeder Staat hat seine Legende, die oft wichtiger ist als seine wirkliche Art, weil aus ihr hervorgeht, wie er gesehen sein will und weil sie den Geist der heranwachsenden Jugend beeinflußt. Die preußische Legende zeigte, daß Preußen amtlich als ein Staatswesen gesehen sein wollte, dessen Rechtsgrundlage und Endzweck das Königtum war, dem der Kantische Pflichtbegriff seine moralische Kraft zur Verfügung zu stellen hatte. Das preußische Landtagswahlrecht sorgte dafür, daß dieser Schein in gewissem Grade Wesenheit erhielt, ja sogar in das Reichsleben drang die Macht der Legende; sie wurde dem aus dem allgemeinen Stimmrecht hervorgegangenen Reichstag entgegengehalten, wenn er gelegentlich einmal die eigensinnigen Parteiungen überwand und für sich einen positiven Anteil an der Regierung begehrte. Man war in Deutschland, ganz abgesehen von der größeren Korrektheit des öffentlichen Lebens, persönlich nicht unfreier als in Frankreich, aber der prinzipielle Unterschied * 85