Historische Blaetter 2. (1921)
Berthold Molden: Das Schicksal der Deutschen und der Weltkrieg
an den Gedanken eines. Kampfes gegen Deutschland. Delcassé wurde gestürzt, aber der Eindruck der Episode blieb. Clemenceau, der das Jahr 71 in Paris aktiv miterlebt hatte, war ein Chauvinist, der gelegentlich sogar von der Wiederherstellung der Rheingrenze sprach. Als Poincaré Minister des Äußern wurde, tränkte er die Politik Frankreichs mit chauvinistischem Geiste. Seine Erwählung zum Präsidenten mit Hilfe russischen Einflusses ließ die Herzen der Kriegsfreunde höher schlagen. Während der Konferenz, die in London zu Beginn des Jahres 1913 zur Regelung der Balkanfrage stattfand und die sehr bedenkliche Augenblicke zu passieren hatte, gab der russische Botschafter Benckendorff in einem Bericht, den er am 25. Februar an Sasonow erstattete, auf Grund von Äußerungen des Botschafters Cambon und nach dem Eindruck über die Haltung Poincarés das Urteil ab, daß „von allen Mächten Frankreich die einzige sei, die, um nicht zu sagen, den Krieg will, ihn ohne großes Bedauern sehen würde“. Die Franzosen sind ein patriotisches und erregbares Volk, ein Volk von starkem Persönlichkeitsgefühl und starker Subjektivität. Sie haben das Jahr 70, obwohl es ein Rückschlag gegen die vielen früheren französischen Übergriffe war, den Deutschen nie verziehen, haben in der Überzeugung gelebt, daß Frankreich ungeheures Unrecht von Deutschland geschehen sei. Sie haben diese Auffassung, bei der großen Verbreitung ihrer lebendig und elegant geschriebenen Bücher und Zeitungen, bei der oft unbewußten Geschicklichkeit, mit der sie für sich Propaganda zu machen wissen, und bei der historischen und kulturellen Kraft, die hinter dieser Propaganda steht, weithin mitzuteilen gewußt. Sie selbst hielten ein Volk, das ihnen durch Sieg und Landwegnahme Schmerz zugefügt hatte, für fähig zu jeder Böswilligkeit. Mit Leichtigkeit ließen sie sich von ihren Chauvinisten einprägen, daß ein deutscher Überfall, ein „neuer“ deutscher Überfall, stets zu gewärtigen sei, und es läßt sich nicht in jedem einzelnen Fall entscheiden, ob die Gespensterseherei echt oder unecht ist. Daß sie vorteilhaft verwendet wurde, ist zweifellos. Offen erzählt der Diplomat, der einige Zeit vor dem Ausbruch des Weltkrieges Botschafter in Petersburg wurde, Maurice Paléologue, ein echter oder theaterspielender, oder ein halb echter und halb theaterspielender Gespensterseher, in seinen, vor kurzem veröffentlichten Erinnerungen, wie er im Juni 1914 vor dem Attentat von Sarajewo, dem Ministerpräsidenten Viviani beibrachte, daß Kaiser Wilhelm den Krieg wolle und daß es höchst gefährlich wäre, seinen zweifellos scheinheiligen Wünschen nach einer Aussprache mit einem hervorragenden französischen Kammermitglied Folge zu leisten. Offen erzählt y si ÍÖÖ