Historische Blaetter 2. (1921)

Eduard v. Wertheimer: Neues zur Orientpolitik des Grafen Andrássy (1876-1877)

deutschen Reichskanzler, durchdrungen von der Überzeugung, daß dieser Frankreichs oder Rußlands oder beider wegen der Freundschaft Österreich-Ungarns benötige. Aber der österreichisch-ungarische Mi­nister hatte keine andere Wahl, als sich gegen ein Umsichgreifen des Panslawismus auf dem Balkan an Deutschland anzuschließen. England war ein zu schwankender Bundesgenosse, auf den in Gefahr nicht mit voller Sicherheit zu rechnen war. „England“ — schrieb um diese Zeit ein scharfer Beobachter der englischen Zustände — „das Land mit dem stärksten Nervensystem, ist endlich nervös geworden“1 — ein Urteil, das selbst Disraeli bestätigen mußte2. Die Briten waren zum Be­wußtsein dessen gekommen, daß ihre Politik im Orient in den letzten Jahrzehnten auf Irrwegen gewandelt war. In der Stunde der schmerz­lichen Erkenntnis fiel es ihnen schwer, sich dies selbst einzuge­stehen. Daraus folgte Verwirrung in den Anschauungen darüber, was nunmehr zu tun sei, was man wolle und könne. So stellte sich Un­behagen, Kleinmut und Ratlosigkeit in den Entschlüssen ein3. Cha­rakteristisch für England ist es, daß das Berliner Memorandum nicht, wie man offiziell angab, wegen dessen angeblicher Unbrauch­barkeit in der Praxis vom Londoner Kabinett abgelehnt wurde. Den eigentlichen Grund zu solchem Vorgehen bildete ein wesentlich an­deres Motiv. Wie Lord Loftus und noch gesprächiger dessen Ge­mahlin dem Freiherrn v. Langenau vertraulich mitteilten, fühlte sich das britische Ministerium in seiner Eitelkeit dadurch verletzt, daß die drei Kaiserreiche ohne Zuziehung der anderen Mächte, vor allem Englands, das Berliner Memorandum endgültig feststellten, und es dann den Höfen einfach zur Annahme oder Ablehnung vorlegen ließen4. Lord Beaconsfield war wohl seinem ganzen Temperament nach ein Staatsmann großer Entwürfe. Aber er hatte um diese Zeit noch kein Vertrauen zu Andrässy, den er für unentschlossen hielt, von dem er sagte, daß er jede Woche oder jeden Tag seine Meinung ändere und ein doppeltes Spiel treibe5. Lord Derby, dem die eigentliche Leitung der auswärtigen Politik oblag, fehlte es an höherem Schwung und er war auch nicht die Persönlichkeit, die die Kraft besaß, Andrässy in 1 Graf Wolkenstein, Stellvertreter des abwesenden Beust, an Andrässy, Lon­don, 29. Dezember 1876. W. St. A. 2 Ibidem. 3 Ibidem. 4 Langenau, Mein Wirken als Gesandter. W. St. A. Damit stimmt, was hierüber Disraeli äußert bei George Earle Buckle: The life of Benjamin Disraeli, 6. Bd., S. 25. 5 Buckle, The life of Benjamin Disraeli, 6. Bd., S. 13, 15. später, zur Zeit des Berliner Kongresses, änderte Disraeli seine Meinung und nannte Andrässy (ibid. 329) „a manageable man“. '5

Next

/
Thumbnails
Contents