Pester Lloyd-Kalender 1861 (Pest, 1861)

Pester Lloyd-Kalender für das Jahr 1861. - Geschichte des Jahres

68 Geschichte des Jahres. desselben sich zweideutig benommen und einzelne Aufwiegler gegen die einheimischen Soldaten beschützt hatten. Kardinal Antonelli gab demzufolge das Kriegsportefeuille, das er bis dahin interimistisch verwaltet, an den Prälaten Merode, einen ehemali­gen belgischen Officier ab: und diesem gelang es, seinen Verwandten, den von Afrika her und als Opfer des napoleonischen Staatsstreiches berühmten General Lamoriciere Mitte April zur Ueber- nahme des Oberkommando's im Kirchenstaate zu be­wegen. Eine Anleihe und die Geldsammlungen, welche in der gesammten katholischen Christenheit unter dem Namen des Peterpfennig's veranstaltet wurden, sollten Lamonciére die nothige'n financiellen Hilfsquellen erschließen, um in aller Herren Ländern Werbungen für die päpstliche Armee vorzunehmen. Da überdies König Franz II. an der neapolitani­schen Grenze schon seit dem Herbste ein starkes Ob- servationscorpö in den Abruzzen zusammengezogen hatte, das Lamoriciere den Rücken deckte: glaubte die Curie für alle Eventualitäten genügend gerüstet da- ustehen und getrosten Muthes die Entwicklung der Dinge abwarten zu können; wenigstens ließ sich einst­weilen nichts weiter thun. Mittlerweile war in Turin das erste o b e r i t a l i e n i s ch e Parlament am 2. April eröffnet worden und hatte am 13. einstim­mig die Annexion Centralitaliens genehmigt: zwei Tage später trat Victor Emmanuel in Begleitung seiner Minister von Genua aus über Livorno die Huldigungreise nach Florenz, Parma, Modena und Bologna an — die Besitzergreifung von Seiten des Hanfes Savoyen war also nach allen Richtungen hin ein fait accompli geworden. Europa erkannte diese Thatsache nur de facto, nicht de jure an: denn trotz aller Bemühungen des Grafen Cavour machte kein einziges Mitglied des diplomatischen Corps die Tour mit. Selbst der englische Botschafter, Sir James Hud­son, entschuldigte sich in der zwölften Stunde: denn die Kehrseite der centralitalienischen Annexion, die savoyische Frage, hatte inzwischen eine Gestalt ange­nommen, die sogar Englands Stellung zu seinem bisherigen Lieblingsprojekte, der Einigung Ober- und Mittelitaliens zweifelhaft werden ließ. Noch um die Mitte des März hatte Herr von T h o u v e n e l der englischen Regierung die bestimmte Zusicherung ertheilt, Frankreich werde in Betreff N i z z a's und S a v o y e n's die europäischen Mächte „consultiren". Doch hatte seitdem die ganze An­gelegenheit eine andere, weit gehässigere Wendung bekommen, da sich erstens gezeigt, daß diese „Con- sultirung" eine bloße Phrase sein, und auf nichts mehr als auf die Erlaubniß zur Anerkennung einer vollen­deten Thatsache hinauslaufen solle; da sich zwei­tens bald herausstellte, daß das Tuilerienkabinet die in Nizza und Savoyen zu veranstaltende allge­meine Abstimmung zu einer ekelhaften Farce herab- znwürdigen beabsichtige; da es endlich drittens klar wurde, daß Napoleon auch nicht einmal der Schweiz, die ohne die mindeste Schuld bei dem ärgerlichen Handel in eine häßliche Klemme gerieth, die kleinsten Cvncessionen machen wollte, obschon sein Minister Anfangs März zu Dr. Kern gesagt: „wir müßten ja der Auswurf der Menschheit sein, wenn wir unsere Verpflichtungen gegen die Eidgenossenschaft vergessen sollten!" Der Berner Bundesrath hatte nämlich bereits im Laufe des März Protest erhoben wider die Vereinigung derjenigen Theile Savoyen's mit Frankretch, die kraft der Wiener Verträge in der schweizerischen Neutralität mit einbegriffen waren und deren zeitweilige militärische Besetzung der Schweiz zuftand, sobald an dieser Grenze Kriegsgefahren droh­ten. Der am 24. März in Turin untexzeichnete und vierundzwanzig Stunden später im „Moniteur" ab­gedruckte Abtretungsvertrag, kraft dessen Victor Emmanuel Nizza und Savoyen „ohne Wil­lenszwang der Bevölkerung und vorbehaltlich der Genehmigung durch das italienische Parlament an Napoleon überließ, besagte jedoch in Betreff N e u- tralsavoye n's blos: „der König gebe dasselbe dem Kaiser unter denselben Bedingungen, unter de­nen e r es besessen, und werde Napoleon sich in Betreff dieses Punktes mit den Mächten sowie mit der Schweiz verständigen." Natürlich konnte die Letztere damit, daß man ihr das Recht zusprach, nach wie vor even­tuell das Faucigny, Genevois und Chablais occupiren zu dürfen — ein Recht, das nach Einverleibung der Distrikte ein offenbarer Hohn war — eben so wenig zufrieden sein; als die Mächte in der erwähnten Klausel des Traktates eine „Consultirung" erblicken mochten. Thouvenel aber hielt unverrückbar den Stand­punkt fest: „die Vergrößerung Piemont's mache ge­wisse Bürgschaften wegen der französischen Grenze un­erläßlich ; daß eine derartige Nothwendjgkeit existire, davon trage lediglich England die Schuld, weil es auf die Annexion Centralitaliens gedrungen. Denn Frank- reich's Erklärung, der Plan sei aufgegeben, beziehe sich auf die Voraussetzung, es werde bei den Stipu­lationen von Villafranca sein Bewenden haben. Uebrigens sei bei dieser Frage weder die Idee der Nationalität, noch d i e der natürlichen Grenzen für Frankreich maßgebend; der Akt sei ausschließlich eine Garantie, geboten durch Umstände, die sich nirgends anderswo wiederholen würden. Wie bei der Ceffion der Lombardei werde Frankreich auch bei derjenigen Savoyen's und Nizza's erst nach erfolgter Besitzver­änderung in eine Conferenz willigen, auf welcher das vereinigte Europa dann von dem Märzvertrage Kenntniß nehmen könne." Obiges Raisonne- ment galt den Mächten und zugleich England, indem sich trotz des Handelvertrages eine starke Opposition gegen die Vergrößerung Frankreich's und mehr noch ' gegen die beabsichtigte Bedrohung Genf's und damit i der ganzen Eidgenossenschaft regte: schien doch die ! Selbstständigkeit Helvetien's für immer verloren, so-

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