Pester Lloyd-Kalender 1861 (Pest, 1861)

Pester Lloyd-Kalender für das Jahr 1861. - Geschichte des Jahres

Geschichte des Jahres. 69 bald die Ufer des lemanischen See's erst in dm Besitz Frankreichs übegegangen wären! Um die Schweiz mundtodt zu machen, ward eine Deputantion Sa- voyarden nach Paris beordert, die am 21. März dem Kaiser aufwarten und ihn bitten mußte, Savoyen nicht zu zerstückeln — worauf Se. Majestät zu erwi­dern geruhten: „fast hätte meine Freundschaft für die Eidgenossenschaft mich zu dem Versprechen einer Ter­ritorialabtretung bewogen; allein ich werde mich des­sen weigern, nun da mir der Widerwille des Landes gegen jede Theilung bekannt geworden ist." Verge­bens war es, daß die savoyischen Blätter mit Entrü­stung darauf hinwiesen, wie kein Mensch das Mandat der angeblichen „Deputirten" kenne; vergebens, daß die in Nordsavoyen circulirenden Petitionen für den Anschluß an die Schweiz sich im Augenblick mit 11,000 Unterschriften bedeckten; während in Nizza, trotz der Anwesenheit französischer Kriegsschiffe im Hafen, schon am 11. März 12,000 Personen einem feierlichen Gottesdienste beiwohnten, durch den die Stadt die Abwendung der französischen Herrschaft vom Himmel erflehen wollte, da sie im äußersten Falle es vorzog, sich als einen autonomen Staatskörper zu organisi- ren. Der kaiserliche Minister beharrte dabei: „als wir uns bereit zeigten, Neutralsavoyen an die Schweiz abzutreten, hatten wir noch keine Ahnung von der entschiedenen Abneigung des Landes gegen ein solches Auskunftsmittel; jetzt müssen wir den Willen der Bevölkerung respektiren, nnd können daher nichts thun, als die Neutralitätspflichten, welche die Wiener Schlußakte dem Herrn Savoyen's auferlegt, von Piemont auf Frankreich übertragen! Alles was wir darüber hinaus zugestehen dürfen, ist die Bewilligung einer freien Handelszone, so wie die Neutralisirung des Genfer See's, den keine Kriegsschiffe befahren, und seiner Ufer, an denen keine Befestigungen errich­tet werden sollen." Während dieser Verhandlungen nahm die faktische Besitzergreifung der Provinzen ih­ren Anfang. Am 23. März räumten die letzten pie- montesischen Behörden und Truppen Chambery und Nizza: Zwei Tage darauf faßten an beiden Orten französische Regimenter Posto, die angeblich nur auf dem Rückmärsche aus der Lombardei begriffen waren und dort Station machten. Diese elende Jntrigue noch dicht vor dem Abschlüsse zu durchkreuzen, dazu gebrach es den Mächten an der rechten Energie, auch an der erforderlichen Einigkeit; der Schweiz an der nothwendigen Kraft. Der Berner Bundesrath wandte sich an die Großstaaten mit der Bitte um die Einbe­rufung eines Congresses. Einem solchen Auswege wa­ren selbst England und Preußen abgeneigt, da sie be­fürchteten, derselbe werde blos zu einer indirekten An­erkennung der Vergrößerung Frankreichs führen; Oesterreich verstand sich blos unter der Bedingung dazu, daß dieser Areopag die völkerrechtswidrigen Ane­xionen Piemont's ebenfalls vor sein Forum ziehe; Ruß­land endlich meinte gar, es habe gegen den ganzen Handel nichts einzuwenden, wenn die Besitzverände­rung auf regelmäßige Weise vor sich gehe. Nicht ein­mal zu einem förmlichen Proteste ließ Lord Palmer- ston es kommen; allen Angriffen der Opposition im Ober- und Unterhause setzte das Kabinet der Köni­gin Victoria die Frage entgegen: ob man wolle, daß England seinen Protest mit dem Schwerte unterstützte, oder daß es sich durch einen Protest entwürdige, den der Kaiser wie einen Papierfetzeu tu die Tasche stecke? Das Aeußerste, was Großbritannien seinem übermäch­tigen Alliirten gegenüber wagte, war die, allerdings immerhin inhaltsschwere Deklaration, die Lord Rüs­sel am 27. März bei den Gemeinen abgab: „wir haben Grund zum Mißtrauen gegen den Kaiser; denn die Einverleibung Savoyen's wird den kriegerischen Geist der -Franzosen auf ähnliche Fragen bringen, und der Kaiser wird sich dann fügen müssen. England darf sich daher nicht länger fern halten von den anderen europäischen Staaten, um vorkommenden Falles freundschaftlich, aber fest erklären zu können, die Er­haltung des Friedens und der bestehenden Verhältnisse sei ihm wichtig, der Friede aber unsicher, so lange er fortwährenden Unterbrechungen, sowie ewigen Be­fürchtungen von Annexionen ausgesetzt sei." Bald darauf ward denn auch die diplomatische Unterhand­lung über die savoyische Frage zwischen den West­mächten abgebrochen. In seiner letzten Note an Thouvenel hatte Lord Russell sich dahin ausgespro­chen : „Großbritannien habe an dieser Complication kein ttnmittelbares Interesse, sei daher von keinem unfreundlichen Gefühle gegen seinen Bundesgenossen beseelt; jedenfalls aber stehe es Frankreich und Sar­dinien nicht zu, ohne Einwilligung der übrigen Staa­ten ein Element der Sicherheit, zu beeinträchtigen, welches ein großes europäisches Uebereinkommen für einen Staat hergeftellt habe, dessen Unabhängigkeit eine europäische Frage sei." Ungemein selbstzufrieden erwiderte der französische Minister unter dem 26. März: „eine längere Erörterung könne keine prakti­schen Folgen mehr haben; er begnüge sich demnach, mit Freuden zu konstatiren, daß England nicht Protest erhoben, sondern einfach eine Meinungsverschiedenheit registrirt habe, die nicht als Opposition zu betrachten sei und die freundschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern nicht beeinträchtigen könne." In einer Circulardepesche vom 5. April wiederholte Herr von Thouvenel dann nochmals: „eine Zerstückelung Sa­voyen's sei unmöglich; die Schweiz müsse Frankreich Vertrauen schenken und werde am besten thun, sich direkt mit dem Kaiser zu verständigen; eine Conferenz sei in dem gegenwärtigen Stadium unmöglich." So war denn die Republik ausschließlich auf sich selber angewiesen: und der Ausgang konnte umsowe­niger zweifelhaft sein, als es keine Hinterlist, keine Gewaltthatigkeit gab, welche die französischen Agenten nicht in Anwendung gebracht hätten um bei der be­vorstehenden Abstimmung in dem, seit dem Abzüge der

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