Pester Lloyd-Kalender 1861 (Pest, 1861)

Pester Lloyd-Kalender für das Jahr 1861. - Geschichte des Jahres

66 Geschichte des Jahres. lassen, ohne sich einzumischen, aber auch ohne sie anzu­erkennen, und sich auf die Vertheidigung Venetiens beschränken, das zu beschützen, es allein Mannes ge­nug sei und daher keiner Congreßbürgschaft bedürfe — Frankreich habe die drei ersten Bedingungen ge­nehmigt, wolle die vierte Stipulation, die Annexions- frage, jedoch in reifere Ueberlegung ziehen, ehe es eine giltige Antwort ertheile. Gleichzeitig meldete Lord Granville dem Oberhause: Frankreich habe sich dahin geäußert, die Einverleibung Savoyen's sei aufgegeben worden, da die ursprünglich projektirte Miteroberung Venetien'S für Piemont nicht eingetreten sei. Bald genug ward indeß klar, daß Napoleon fest gewillt sei, in Bezug auf die letzte englische Klausel nur Annexion um Annexion zu dulden: und bei der Eröffnung des Corps Legislatif schwand jeder weitere Zwei­fel über die eigentlichenAbsichten Frankreichs. „Nachdem die Combination von Villafranca, welche um den Preis der Restauration der Herzoge für Venetien eine fast vollständige Unabhängigkeit begehrte, gescheitert ist — so lautete der bezügliche Passus der Thronrede vom 1. März — habe ich dem Könige Victor Emma­nuel gerathen, die Annexionswünsche günstig aufzu­nehmen, aber die Autonomie Toscana's lind im P r i n c i p e die Rechte der Kirche zu achten. Dadurch wird Piemont ein Staat mit mehr als 9 Mill. See­len, und Angesichts dieser Umgestaltung Rorditalien's, die einem mächtigen Reiche alle Uebergänge über die Alpen verleiht, war es meine Pflicht, für die Sicher­heit unserer Grenzen die Abhänge des Gebirges zu re- klamiren. Diese Zurückforderung eines Gebietes von so geringer Ausdehnung hat nichts, was Europa be­unruhigen oder jener Devise der Uneigennützigkeit, die ich mehr als einmal verkündigt, ein Dementi ge­ben könnte: denn Frankreich will Zu dieser Vergröße­rung, wie gering sie auch sei, weder durch militärische Besetzung, noch durch Hervorrufung einer Jnsurrec- tion, noch durch heimliche Manöver gelangen, son­dern indem es die Frage offen den Großmächten vor­legt." Natürlich wußte der Kaiser recht wohl, daß Europa sich allerdings über den kleinsten Ge­bietszuwachs Frankreichs ganz anders „beunruhi­gen" würde, als über den größten Sardinien's; daß er, wenn er in der mittelitalienischen Frage von Piemont und selbst von England vorwärts gedrängt werde, in der savoyischen auf die erste Opposition Englands zu rechnen habe und sich eventuell auch auf eine Treulosigkeit von Seiten Cavours gefaßt machen müsse; daß ihm daher, um dem Einen wie dem Anderen vorzubeugen, nichts übrig bleibe, als einerseits dem Widerstande Großbritannien's durch Gewährung einer materiellen Concession die Spitze abzubrechen, und andererseits Piemont in Betreff der mittelitalienischcn Annexion so lange hinzuhalten, bis dieselbe Zug um Zug mit der Einverleibung Sa­voyen's vorgenommen werden konnte: gelang es auf solche Weise, einen Protest Englands zu vermeiden und mit Piemont Alles in größter Stille abzuma­chen, so stand zu hoffen, daß die anderen Mächte ih­rer Abneigung gegen die Vergrößerung Frankreichs ebenfalls weiter keinen officiellen Ausdruck verleihen würden. Der erstere jener beiden Zwecke sollte durch den Abschluß eines englisch-französischen Handelsvertrages erreicht werden, zu dessen Unterhandlung Lord Palmerston Mr. Cobden nach Paris gesandt. In dem „Moniteur" vom 15. Jän­ner ward ein vom 5. datirter Brief des Kaisers an den Staatsminister Fould veröffentlicht, worin es un­ter anderem hieß: „ungeachtet der Ungewißheit, die noch über einige Punkte der auswärtigen Politik herrsche, könne man mit Vertrauen einer friedlichen Lösung entgegensehen; es sei daher der Augenblick ge­kommen, sich mit den Mitteln zu heschäftigen, um den verschiedenen Zweigen des Nationalreichthums einen großartigen Aufschwung zu geben." Beide Länder waren daher vorbereitet, als sie gleich darauf erfuh­ren, daß schon am 23. Dezember in Paris ein com- mereieller Traktat unterzeichnet worden sei, in welchem Frankreich sich zur Abschaffung seiner Prohibitiv- so wie der auf Rohstoffen lastenden Schutzzölle verpflich­tete und überdies die Eingangsabgaben für Stahl-, Wollen-, Leinen-, Baumwollen-Waaren und Maschi­nen bedeutend herabsetztc; während England Seiden- waaren zollfrei, Weine und Liqueure gegen die bloße Entrichtung der, auch allen inländischen Spirituosen auferlegten Accise einzulassen versprach. Die Schwen­kung aber, durch welche man Sardinien mürbe zu machen suchte, bestand darin, daß Herr von T h o u- v e n e l dem Grafen Cavour, ganz im Sinne der kai­serlichen Thronrede proponirte: Parma und Modena werden annexirt; die Romagna verwaltet Victor Emmanuel als päpstlicher Vikar; Toscana bleibt ein selbstständiges Reich unter einem, von der Nation frei zu erwählenden Fürsten, wobei zwar der König, nicht aber dessen Neffe, der sechsjährige Herzog von Genua, von der Kandidatur ausgeschlossen sein solle, auch die Regentschaft von Victor Emmanuel geführt werden und das etwaige Heimfallsrecht bei Piemont verbleiben könne; Frankreich erhält Nizza und Sa­voyen. Inzwischen hatte jedoch Baron Ricasoli bereits am 25. Jänner auch für Toskana das sardi- nische Statut proklamirt und gleichzeitig bestimmt, daß das ehemalige Großherzogthum 87 Deputirte für das oberitalienische Parlament in Turin zu ernennen ha­ben werde: ja am 2. März setzte er im Verein mit F ar i n i den 16. d. M. als den Termin zur Abstim­mung über die Annexion für ganz Mittelitalien an. Darauf gestützt, ertheilte Cavour am 29. Feber in Betreff Mittelitalien's und am 2. März in Be­treff Savoyen's dem französischen Minister einen Bescheid, dessen Inhalt sich dahin resumiren läßt: „Sardinien kann die Losung, welche Frankreich in Bezug auf Centralitalien vorschlägt, nicht acceptiren; doch will es dieselbe der Liga vorlegen und sich dem

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