Pester Lloyd-Kalender 1861 (Pest, 1861)
Pester Lloyd-Kalender für das Jahr 1861. - Geschichte des Jahres
Geschichte des Jahres, 65 nimmer zur Ausführung gelangen, das Portefeuille des Auswärtigen an Thouvenel abtreten. Einen unzweifelhaften Commentar erhielt dieser Ministerwechsel, als acht Tage darauf in Turin Graf Lavour ein neues Kabinet bildete, in dessen Persönlichkeiten der Sieg der Annexionspartei sich gewissermaßen schon verkörperte: denn neben dem Diktator der Emilia, Farini, und dem Chefgeneral der Liga, Fanti, für das Innere und den Krieg, gesellte der Graf sich den Römer Mamiani, einen Lombarden und einen Venetia- ner für die übrigen Departements zu. Gleichzeitig veröffentlichte der „Moniteur" vom 17. Jänner einen Brief Napoleo n's an H) i o IX., worin der Kaiser schon früher vom Papste die Verzichtleistung auf die Romagna verlangt hatte — als Replik auf die Neujahrsrede des heiligen Vaters und insbesondere auf dessen Behauptung, daß Napoleon sich vormals in einem, den Lehren der Brochure diametral entgegengesetzten Sinne geäußert. „Thatsachen — heißt es in dem Schreiben — haben ihre unerbittliche Logik. Bei aller Ergebenheit konnte ich einer Art von Solidarität mit der, durch den Krieg mit Oesterreich hervorgerufenen nationalen Bewegung nicht ausweichen. Nach dem Tage von Villafranca proponirte ich der Curie eine administrative Trennung der Legationen unter einem eigenen Statthalter, fand aber mit meinen Vorschlägen kein Gehör. Heute nun wird zwar der Congreß unzweifelhaft die unbestreitbaren Rechte des heiligen Stuhles auf die Romagna anerkennen: allein in eine g e w a l t sa m e Restauration des Alten kann er nicht willigen, um nicht neuen Haß der Italiener, neue Eifersucht unter den Großmächten zu erzeugen. Es ist daher das Beste, die Kirche bringt die abgefallenen Provinzen gegen eine europäische Garantie ihrer sonstigen Besitzungen auf dem Altäre des Vaterlandes zum Opfer dar, da ihr ohnehin die Romagna seit fünf Decennien nichts als Schwierigkeiten bereitet hat, und die eine fast ununterbrochene Occnpation derselben durch fremde Truppen nothwendig gemacht haben. So würde den dankbaren Italienern der Friede, dem Papste der Rest seines Gebietes gesichert werden." Die Anfangs Februar erfolgende Unterdrückung des ultramontanen „Univers" in Paris — als des „Organes einer religiösen Partei, deren Ansichten von Tage zu Tage in immer direkterer Opposition zu den Rechten des Staates getreten" wären — bildete, so zu sagen, den Schlußstein in einer Reihe von Maßregeln, die unwiderleglich bewiesen, daß es Frankreich voller Ernst damit war, die Doctrinen des Pamphletes, mindestens soweit sie die Romagna betrafen, schon jetzt zur sofortigen Ausführung zu bringen. Auch täuschte man sich in Rom keinen Augenblick über den wahren Sinn all' dieser Schritt: statt im nutzlosen Haschen nach einer unmöglich gewordenen Transaction die Kräfte zu zersplittern und den moralischen Halt zu gefährden, hielt man dort nur noch das Eine Ziel fest, sich. so weit thunlich zum Widerstande zu rüsten, im übrigen aber dem Unvermeidlichen mit ungebeugter Stirne zu begegnen; während man alle Mahnungen zu Reformen mit einem lakonischen „wir können nicht" — non possumus — zurückwies. Mit bitterem Hohne deutete Pius IX. in seiner vom 8. Jänner bahrten Erwiderung auf das Schreiben Napoleo n's darauf hin, daß Frankreich sich, nicht wie die Romagna seit fünf, sondern seit sieben Jahrzehnten in dem Zustande permanenter Revolution befinde, ohne daß es Jemanden eingefallen sei, daraus auf die Nothwendigkeit seiner Zerstücklung zu schließen : er für seine Person könne nur an einen höheren Richter appelliren, der über sie Beide zu Gerichte sitzen werde, da er das Erbe Petrus', dessen bloßer Verwalter er sei, nicht verringern lassen dürfe. In der nämlichen Weise sprach sich die an demselben Tage abgefaßte E n c y c l i c a aus. Der Kaiser brach den Briefwechsel ab: die Encyclica jedoch widerlegte Thouvenel durch eine Circularnote, in welcker er den Satz ausführte, daß die weltliche Macht der Päpste und die religiösen Dinge nicht das Geringste mit einander gemein hätten, und sodann den historischen Nachweis lieferte, daß Pius IX. zur Abtretung der Romagna ganz wohl ermächtigt sei, da die zeitlichen Besitzungen der Kirche denselben Bedingungen unterworfen wären, wie d i e jedes anderen Souverains, was zur Genüge durch die Art erhärtet werde, wie alle Päpste der Reihe nach Städte und Provinzen erobert; durch Heimfall, Kauf nnd Tausch erworben ; in unglücklichen Kriegen verloren nnd cedirt; in besseren Zeiten zurückgewonnen hätten u. s. w. Doch müssen wir, um den Fortgang der Annexionsangelegenheit zu verstehen, jetzt zunächst d ar- a u f Rücksicht nehmen, daß sie, außer ihrer antiösterrei- chichen und antipäpstlichen, auch noch ihre antienglische, ja ihre antisardinffche Spitze hatte: da gerade das Durcheinanderwirken dieser verschiedenen Faktoren namentlich für die Haltung Frankreich's,demKirchenstaate, den Herzogen und Piemont gegenüber, maßgebend war. Gegen Ende Jänner begannen in Savoyen und Nizza die' Agitationen gegen den, vorläufig noch auf einem dunklen Gerüchte beruhenden Plane des Kaisers, diese beiden Provinzen seinen Staaten zu inkorporiren. Am 7. Feber wurden die ersten Erklärungen in Betreff des Punktes im Parlamente abgegeben, die schon deutlich bewiesen, wie enge die mittelitalienische und die savoyische Einverleibung mit einander verbunden waren. An jenem Tage zeigte Lord Russell nämlich dem Unterhause an: England habe als Basis für den Congreß in Vorschlag gebracht: „Räumung Piemont's und Rom's von französischen Truppen; keine Intervention in Centralitalien; Venetien bleibt ganz aus dem Spiele; Sardinien darf die Herzog- thümer und die Romagna sich einverleiben, wenn die zu veranstaltende allgemeine Abstimmung zu seinen Gunsten ausfällt." Oesterreich habe auf die Mittheilung dieses Progxammes erwidert, es werde die Dinge in Mittelitalien ihren Gang gehen e