Pester Lloyd-Kalender 1859 (Pest)
Pester Lloyd-Kalender für das Jahr 1859 - Geschichte des Jahres
166 Geschichte des Jahres. célébre, in der sich mehrere Wochen hindurch das Interesse von ganz Europa concentrirte; die aber namentlich in Frankreich ernstliches Aufsehen erregte, da hier die plumpe Weise, auf welche Veuillot im „Univers" den Israeliten entgegentrat, so wie die Rücksicht, daß die That, so zu sagen unter dem unmittelbaren Schutze der - französischen Bajonette ausgeführt worden war, die Theilnahme wesentlich erhöhten. Ohne sich gegen die die Kirche auflehnen zu wollen, legte Napoleon daher unter der Hand für die Mortaras ein gutes Wort ein, bei dem ihm gewiß viel daran gelegen war, daß es eine gute Sjatt fände. Nichts desto weniger blieb seine Fürsprache ohne alles Resultat: so daß die eben erwähnte öffentliche Aufnahme von Juden in die algierischen Ge- neralräthe jedenfalls als eine sehr demonstrative Antwort auf diese Nichtbeachtung der kaiserlichen Wünsche zu betrachten ist und daher auch die Entfremdung beider Höfe gegeneinander noch vergrößert hat. Nach wie vor blieb demnach für etwaige italienische Projekte Piemont der alleinige Stützpunkt Frankreich's und der einzige Hebel, den es in Bewegung zu setzen hoffen konnte. Offenbar arbeitete Graf Walewski seit Monaten mit Eifer und Mühe daran,-hier eine Zustimmung Rußland's zu ben fr an- zösisch-sardinischen Plänen zü erwirken, und ließ deshalb alle Anstrengungen der Petersburger Regierung an den ligurischen Gestaden festen Fuß zu ssassen nicht nur stillschweigend gewähren, sondern förderte sogar nach Kräften deren Gelingen. So geschah es sicherlich nicht ohne Anfrage bei dem Kaiser Napoleon und ohne dessen vorhergehende Einwilligung, daß Graf Cavour im September 1858 der russischen Dampfschifffahrtsgesellschaft des Schwarzen und Mittelmeeres das Etablissement von Dillafranca überließ und zu der kindischen Ausrede des sardinischen Ministerpräsidenten, es handle sich dabei blos um die Abtretung einiger alten Kohlenschuppen, stillschwieg. Daß sich durch diese Ausflucht Niemand täuschen ließ, versteht sich um so mehr von selbst, als es schon im Laufe des December an's Tageslicht kam, daß Rußland außerdem mit dem Fürsten von Monaco über den Ankauf seines ganzen, hart an Villafranca stoßenden Ländchen's in Unterhandlungen getreten war, die nur an dem Souveranetäts-Bewußtsein dieses kleinen Herrn scheiterten; und als, gleich nach erfolgter Uebergabe Dillafranca.'s, russische Militärposten dort Wachen bezogen, während sich nach und nach über ein halbes Dutzend russischer Kriegsschiffe in jenen Gewässern sammelten. Als demnach int December die französischen Blätter die Parole erhielten, in die Kricgsfanfare gegen Oesterreich zu blasen: kann man sich leicht denken, mit welchem Jubel die Turiner Journale einstimmten. Die Vorgänge 'des letzten Herbstes, dazu die Ankunft des Großfürsten Constantin, des russischen Generaladmirals, in Nizza, und die Reise, welche Persigny, der stete Vertraute der innersten Gedanken Napoleon's, nach Italien unternommen hat, bilden für die heißblütigen Italiener unzweideutige Vorboten der großartigen Ereignisse, die sie von dem kommenden Frühjahr erwarten. Ob nicht demungeachtet alle diese Zeichen trügen? ob es nicht an der Seine abermals auf nichts weiter abgesehen ist, als auf eine von jenen Periodisch wieder- ' kehrenden Jnscenirungen des alten Stückes „viel Lärm um Nichts" deren der französische Imperialismus, wie es scheint, zu seiner Stabilirung zu bedürfen glaubt? Fast : möchten wir es behaupten! denn in den Tuilerien selber wird man es wahrlich am besten empfinden, wie wenig Frankreich auf einen energischen Beistand von Seiten ; Rußland's zu rechnen haben würde, und sich deshalb : hüten, sich ohne irgend einen ALiirten in einen Kampf zu wagen, der jeden Augenblick in einen europäischen Krieg Umschlagen könnte und jedenfalls alle die so sorgsam ! geknüpften Bande zwischen der Dynastie Napoleon und I den legitimen Fürstenhäusern Europas, die mühevolle j Frucht siebenjähriger Anstrengungen sofort zerreißen, das alte Mißtrauen gegen den Neffen des einst von allen ; Großmächten in die Acht erklärten Generals Bonaparte ; auf der Stelle wieder wachrufen müßte. Denn Rußland hat vollauf zu thun mit der Anlegung von Dampfer- ' linien und Schienengeleisen, und zeigt keine Luft, die , dazu nothwendigen heimischen und ausländischen Kapitalien durch neues Waffengetöse vom Geldmärkte zu ver- I scheuchen. Rußland arbeitet neben den materiellen an, gewaltigen politischen und socialen Reformen : und ; mag es immerhin, nach deren einstiger Vollendung: , mächtiger als je dastehen — bis dahin ist es gerade- ! zu außer Stande einen Krieg zu führen. Nun aber ist. es kein Werk, das sich im Handumdrehen vollbrin-! gen ließe, wenn Alexander II. Polen, wo über- ! dies das Kokettiren des Prinzen Napoleon mit „natio- I nalen" Sympathien bei seinem Besuche Warschaus im t i Frühjahre allerlei Ideen in dem Czaren rege gemacht!: haben mag, durch Maßregeln der Milde Rußland für immer assimiliren ; wenn er das Tschinwesen, jene Rang- j stufenhierarchie, welche ein ganzes Volk in eine Auto- ■ matenheerde verwandelt, abschaffen; wenn er endlich \ ■ die Leibeigenschaft ausheben will. Die Schwierigkeiten : der letzteren Arbeit allein reichen hin, um mehr als! Eine Regierung auszufüllen. Ein Jahr ist vergangen, I seit Alexander am 2. December 1857 die Adelscomi^s * ins Leben rief, welche über die zur Emancipirung der Bauern nothwendigen Schritte berathen sollen: und • nichts, gar nichts ward bisher erreicht. Ueberall stieß der Kaiser auf Hindernisse, die fast unübersteiglich er- ' schienen: nicht minder bei dem Widerwillen der Edelleutc, die ihn mehrmals zwangen , ihnen harte Strafpredigten zu halten, so im November zu Moskau; ja die sogar in dem zu Petersburg installirten Centralcomitö,dem er selber präsidirte, auf allen ersinnlichenUmwegen das ganze große Werk rückgängig zu machen suchten—als bei der Ungeduld der Leibeigenen, die im Juli in Esthland und bald aucss. anderwärts in offene, nur durch Militärgewalt zu unterdrückende Emeuten ausbrachen. Noch mehr! im Dezember hat ein Theil des Petersburger Adels sogar seiner Opposi- tioneine ganz andere und viel folgenschwerere Frontstellung gegeben. Er protestirt nicht mehr gegen die Abschaffung :