Pester Lloyd-Kalender 1859 (Pest)
Pester Lloyd-Kalender für das Jahr 1859 - Geschichte des Jahres
Geschichte des HahreS. 165 auch in der Unionsfrage mit dem Tutlerienkabinete durch Dick und Dünn ging. Die Unfähigkeit des Königs zu regierten machte es schon im Herbste 1857 notwendig, an Mittel derMbhilfe zu denken. Noch aber war die herrschende Koterie mächtig genug, um es durchzusetzen, daß nicht der von der Verfassung gebotene Ausweg einer Regentschaft, welche dem Thronfolger, dem Prinzen von Preußen, dem ältesten Bruder des Königs die Vollgewalt der souveränen Autorität eingeräumt hätte, eingeschla- gen ward. Es war ihm im Gegentheile nur eine sogenannte „Stellvertretung" auf ein Vierteljahr übertragen, die ihn nöthigte, nach den bekannten Intentionen seines Bruders fortzuregieren. Der Prinz erklärte gleich von vorne herein, er werde sich dies Palliativ höchstens auf ein Jahr gefallen lassen: und getreu seinem Worte verwaltete er das königliche Amt in der Eigenschaft eines bloßen Verwesers, ohne irgend eine Aenderung in der Staatsmaschinerie vorzunebmen, volle zwölf Monate lang, während deren seine Vollmachten von Quartal zu Quartal, vom 23. October 1857 bis zum 23. October 1858, erneuert wurden. Mittlerweile hatte die am 25. Jänner in London vollzogene Vermählung seines ältesten Sohnes mit der ältesten Tochter der Königin Victoria, und der beispiellose Jubel, der den Triumphzug des jungen Ehepaares in Preußen von Köln bis nach derHaupt- ftadt von Ort zu Ort begleitete, klar und deutlich den Pfad gezeigt, auf welchen die Sympathien des ganzen Volkes hinwiesen. So war es denn dem Prinzen von Preußen trotz.des verzweifelten Widerstandes der Kreuz- zeitungs-Männer ein Leichtes, auch den zweiten Theil seines Wortes einzulösen, nachdem er dem ersten Theil desselben ein volles Jahr lang mit der brüderlichsten Pietät gerecht geworden war. Am 23. October 1858 ward der Prinz-Stellvertreter für die Dauer der Krankheit des Monarchen zum Regenten ernannt, in welcher neuen Eigenschaft er drei Tage später den vorschriftsmäßigen Eid auf die Verfassung vor den vereinigten Häusern des Landtags leistete. Kaum war das geschehen, als auch das Ministerium Manteuffel, trotz der krampfhaften Anstrengungen, welche die meisten seiner Mitglieder machten um ihre Portefeuilles zu retten, seine Entlassung erhielt und ein anderes Kabinet installirt ward, vessen im Ganzen freisinnige Tendenz hinlänglich dadurch characterisirt wird, daß Rudolph von Auerswald seine eigentliche Seele bildet. An heterogenen Bestandtheilen fehlt es freilich in dem neuen Gouvernement nicht : doch Der Ausfall der im November vollzogenen Neuwahlen für den Landtag ist der Art gewesen, daß eine überwältigende Majorität in der zweiten Kammer den liberalen Elementen der Regierung einen gewissen Sieg zu versprechen scheint, wenn sie nur die nöthige Energie zu Entfalten und die günstige Gelegenheit so wie die treffliche Stimmung der ihnen zujauchzenden Nation ohne Ueberstürzung, die von ihnen nicht zu fürchten ist, aber auch ohne Zagheit, die auf ihrer Seite eher im Bereiche Iber Möglichkeit liegt, zu benutzen und gehörig auszubeuten wissen. Jedenfalls aber glauben wir nicht zu irren mit der Hypothese, daß der Aufschwung eines Volkes, das sich selbst wiedergefunden, nachdem der auf ihm ruhende Zauberbann gewichep; daß namentlich die Ernennung Bonin's, d. h. des Mannes der 1849 die den Herzogthümern zu Hilfe geschickten preußischen Truppen en Chefcommandirte und der 1854 aus der Stellung eines Kriegsministers auf die ostensiöseste Weise in Ungnaden fenti ward, weil er in einer Kammerkommission ein etwaiges Handinhandgehen seines Vaterlandes mit dem Czaren in der orientalischen Frage für „Selbstmord" erklärte — daß diese Vorgänge in Kopenhagen zu denken gegeben haben und auf die dänischen Erlasse vom 6. November nicht ohne sehr erheblichen Einfluß gewesen sind. Mit dem deutsch-dänischen Streite also war es nichts r und das Tuilerienkabinet mußte sich nach einer anderen „europäischen Frage" umsehcn. Die letzten Wochen haben der Welt gezeigt, daß es dieselbe wieder einmal in Italien gefunden zu haben glaubt. Und doch scheinen die Aspekten Frankreichs auf der apennini- schen Halbinsel sich bisher eben nicht zum Besten gestaltet zu haben. Daß Neapel sich in der „Cagliari"-Frage gerade dem Machtspruch Lord Derby's gefügt, nachdem es die Verwendung Frankreich's zu Gunsten des piemontesi- schen Schiffes unbeachtet gelassen, sich auch fernerhin weigerte, den Besitzer des Fahrzeugs zu entschädigen: konnte begreiflicher Weise weder die Stellung des Kaisers zu König Ferdinand ii. verbessern, noch zur Hebung des französischen Einflusses in Italien beitragen. Im Kirchenstaate waren die Reibungen zwischen der römischen Garnison und den französischen Occupationstruppen ärger und ärger geworden, während das übermüthige, hochfahrende, taktlose Benehmen des in Rom komman- direnden General Goyon zu heftigen Scenen zwischen ihm und den höchsten Civilautoritäten, ja zu unangenehmen Auftritten mit dem heiligen Vater selbst führte. Seit Juli drang die päpstliche Curie bet dem Tuilerien- kabinete zu wiederholten Malen auf Goyon's Abberufung, ohne sie erlangen zu können > ja, der General arbeitet jetzt eifrig an der Befestigung Civitaveccchia's , obschon Pio IX. auf's bestimmteste dagegen protestirt haben soll. Alle diese Vorgänge haben eine sehr merkbare Kälte zwischen Napoleon III. und dem Pabste hervorgerufen, welche durch die Mortara-Affaire noch um mehrere Grade gesteigert worden ist. Im Juli entrissen nemlich die päpstlichen Behörden in Bologna dem jüdischen Kaus- manne Mortara seinen Sohn auf die Behauptung einer christlichen Magd hin, sie habe das Kind vor einigen Jabren, als sie in dem Hause gedient, insgeheim getauft ; und brachten den Kleinen, allem Jammern der Eltern, allen Bitten des Jungen selber um die Erlaubniß zur Rückkehr zum Trotze, zu Rom in einer Katechumenen- Anstalt unter. Der Fall an sich, mehr noch die mit demselben verknüpften Nebenumstände, die Zerstörung des Glückes einer ganzen Familie, da die Mutter in Wahnsinn versiek und der Vater, der seine Geschäfte unter solchen Verhältnissen nicht wahrnehmen konnte, in pekuniären Ruin gerieth, machten die Affaire zu einer cause