Pester Lloyd-Kalender 1859 (Pest)

Pester Lloyd-Kalender für das Jahr 1859 - Geschichte des Jahres

Geschichte des Jahres. 163 Lust hat ruhig zu sein, wenn Frankreich alle Welt auffordert, Spektakel zu machen. In Dsched- d a h ärgert Frankreich sich, vaß es an Mr. Pullen's Heldentbaten nicht bat theilnebmcn können. Es denkt '„besser spät als gar nicht" und hat deshalb in der Person des Herrn Sabatier einen eigenen Commissa- rius abgeschickt, der nur noch auf die Ankunft der ihm nachbeorderten Fregatte „Duchayla" harrt, um auch seinerseits unter dem Vorwände, Jsmael Pascha habe nur ein paar arme Teufel aufgeknüpft, die wirklichen Verbrecher aber absichtlich entwischen lassen, ebenfalls ein wenig zu bombardiren. Dazu kommt, daß in C o n- stantinopel selber die Gesandten der Großmächte sich in die Finanzen des Padischah gemischt und den anlebensbedürftigen Nachfolger des Khalifen zu einem Ersparungssysteme in seinem Haushalte ge­zwungen haben, über das die Seratldamcn nicht weni­ger laut Zeter schreien, als die Pascha's und sonsti­gen hohen Beamten. Man muß gestehen, wenn Frank­reich mit einem seltsamen, stillschweigenden Vorbehalte unter der „Garantie für die Selbstständigkeit und In­tegrität der Türkei" die Vorbereitung zur Auflösung und Zerstückelung derselben gemeint hat: so hat es sein Werk binnen Jahresfrist mit wunderbarer Schnellig­keit zu fördern gewußt! Und doch ist man in den Tuilerien nicht zufrieden: denn man will dort positive, sofortige Resultate; nicht 'solche, deren ungewisse Bilanz erst eine vielleicht ferne Zukunft ziehen kann. Daher fort und fort das unab­lässige Haschen nach neuen „europäischen Fragen", da greifbare Ergebnisse nirgend erzielt worden sind, die französische Politik vielmehr mit ihren augenfälligen Demonstrationen in der Unions-, wie in der Rajah- frage, in der Dscheddab- wie in der montenegrinischen Hafenaffaire, in den Streitigkeiten mit England wegen der Alienbill, wie in denen mit Oesterreich über die Donaunavtgationsakte vor aller Welt im Nachtheile geblieben ist. Eine sehr gelegene Handhabe nun zur beliebigen Anknüpfung von Streitigkeiten mit allen Seestaaten, da dieselben so ziemlich ohne Ausnahme vertragsmäßig zur Unterdrückung des Sklavenhandels verpflichtet sind, bot das seltsame Princip der soge­nannten „freien Negereinwanderun g", in welcher der Kaiser das richtige Mittel erkannt haben wollte, den französischen Kolonien wieder aufzuhelfen; die aber durchaus nichts anderes war, als eine regel­rechte, unter Leitung eines an Bord der betreffenden Schiffe befindlichen RegterungScommisiarius betriebene Seelenverkäuferei. Selbst der äußere Anstand wurde dabei so wenig geachtet, daß die Regierung ganz offen mit dem Hause Regis in Marseille einen Kontrakt ab­schloß, in welchem letzteres sich verpflichtete, gegen be­stimmte Zahlungen die Colonien ratenweise mit einer gewissen Quantität schwarzen Menschenfleisches zu ver­sorgen. Schon hatte diese Praxis gleich nach dem Amtsantritte der TorteS zu sehr heftigen Angriffen auf Frankreich in beiden Häusern des englischen Par­lamentes geführt; schon hatte sie ein unangenehmes Zerwürfniß mit England selber im Mai herbeigeführt, da die „freien Auswanderer" eines solchen Fahrzeuges, der „Regina Coeli", die an der Küste der freien Ne- gerrepublik Liberia in Westafrika ihre Ladung einge­nommen, sich empört und einen Tbeil ihrer weißen Peiniger niedergemacht hatten, worauf sie auf und da­von gesegelt waren. Ein Schiff der englischen „Pen- insular Company" holte die „Regina Coeli" ein und behandelte sie in ihrer Eigenschaft eines Sklavenschif­fes als gute Prise: während man von Paris her un­gestüm ihre Herausgabe forderte und endlich auch er­hielt, da England um des lieben Friedens willen nach- gab. Im Herbste aber folgte ein ernsterer Conflikt mit Portugal, dessen Colontalbehörden in Mozambique auf der Ostküste Afrtka's das französische Schiff „C Har­le s - G e o r g e s" bei dem Sklavenhandel auf offener That ertappt und confiscirt, seinen Kapitän aber in Ketten zur definitiven Aburtheilung nach Lissabon ge­schickt hatten, wohin auch das Fahrzeug selber als gute Prise gebracht ward. Jede Vermittlung und Unter­handlung schroff zurückweisend, verlangte das Tutlerien- kabtnet die augenblickliche Freilassung des „Charles- Georges" und seines Führers: am 13. October ging das bezügliche Ultimatum an die portugiesische Regie­rung ab, nachdem zur Unterstützung desselben bereits vier Tage vorher das Linienschiff „Donauwörth" aus Toulon nach der Mündung des Tajo gesegelt war, das den Befehl hatte, im Falle der Weigerung sofort den französischen Gesandten sammt dessen Personale an Bord zu nehmen und sodann weitere Ordres abzuwar­ten. Der Coup war zugleich gegen England gemünzt, dem nach diesem Auftreten Frankreichs nur die Wahl blieb, durch Abschickung eines Geschwaders einen Krieg zu entzünden, oder seinen hundertjährigen Bundesge­nossen im Stiche zu lassen und so seinem Einflüsse auf der pyrenäischen Halbinsel einen empfindlichen Stoß zu versetzen. Da die Tories sich zu letzterem entschlos­sen, mußte Portugal sich natürlich dem Machtspruche des Grafen Walewski fügen. Doch that es dies in einer Weise, die den Triumph Frankreich's in eine ent­schiedene moralische Niederlage verwandelte und dem kaiserlichen Gouvernement nur den zweideutigen Ruhm ließ, im Interesse des Sklavenhandels gegen einen Staat dritten Ranges Gewalt ausgeübt zu haben. Un­ter lautem Proteste, daß es nur der Uebermacht weiche, gab das Lissaboner Ministerium Fahrzeug und Mann­schaft heraus : und zu noch größerem Aeger der französi­schen Regierung behielt es diese passive Stellung einer Macht, die ein Unrecht, zu dessen Mbwehr sie zu schwach ist, über sich ergehen lassen muß, auch in der Beziehung bei, daß es sich weigerte, über die Höhe der Entschädi­gungssumme in Negotiationen zu treten — Graf Wa­lewski möge seine Forderungen formultren, lautete die Antwort auf den Vorschlag des Tuilerienkabinetes, man 1 werde sie befriedigen. Der Kaiser fühlte, daß er einen Pyrrhussieg erfochten und Anstalten treffen müsse, den

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