Pester Lloyd-Kalender 1859 (Pest)

Pester Lloyd-Kalender für das Jahr 1859 - Geschichte des Jahres

160 Geschichte des Jahres. konnte.DaindessenFrankreich sich so weitengagirthatte,daß es mit Ehren nicht mehr zurück konnte, ertheilte Sul­tan Abdul Medschid noch am 14. auf den Rath der Großmächte Ordre zur Einstellung der Feindseligkeiten, die er -denn auch aufrecht erhalten mußte, als später die Kunde von Delarue's Infamie in Constantinopel anlangte und die gräßlich verstümmelten, der Nase und der Ohren beraubten Gefangenen, welche die Mon­tenegriner später freiließen, am Bosperus ankamen, um dort durch ihren bloßen Anblick die Wuth über die Schmach, welche die „Giaurs" dem Nachfolger des Propheten angethan, auf den höchsten Gipfel zu stei­gern. Damit war aber auch das Maß der Nachgiebig­keit, welche Oesterreich und England Frankreich zeigten, voll. Obschon Jurten durch die Ankunft einer russischen Fregatte in seiner Demonstration unterstützt ward, wurde durch die Einstellung der Feindseligkeiten die obschwe­bende politische Frage doch sofort dahin erledigt: daß die montenegrinische Differenz nicht vor die Pariser Confe­renz der sieben Mächte gehöre, sondern auf einer in Constantinopel abzuhaltenden Conferenz der fünf Groß' Mächte und der Pforte, ohne Zuziehung des Fürsten Danilo zu ordnen sei, nachdem eine eigene Grenz- regulirungscommiffion vorher an Ort nnd Stelle den beiderseitigen Besitzstand genau untersucht haben werde, da Graf Walewskt unter Berufung auf die Protokoll des Friedenscongresses, nicht zugeben wollte, daß die Türkei sich dort ein Stück Land aneigne, das 1856 im Augenblicke des Vertragsabschlusses der Czernagora ge- hörte. Mochte die Aufregung unter den Moslim im­merhin so groß sein, daß man zu wiederholten Malen in Constantinopel den Ausbruch eines Aufstandes be­fürchtete : der Padischah konnte nicht anders, als schwei­gend gehorchen, denn nicht nur ging die Jnsurrection der Raiah in der Herzegowina und in Bosnien ihren Weg fort; am 16. Mat erhoben sich auch auf der Insel Greta die christlichen Bauern mehrerer Dorfschaften in dem Distrikte von Canea gegen den Generalgouver- neur Bely Pascha. Brutale Mordthaten wurden von beiden Seiten verübt-, die Bauern gingen in ihrem Uebermuthe so weit, daß sie es Bely Pascha geradezu abschlugen, mit ihm in Unterhandlungen zu treten, und sich direkt an den Sultan, vorzüglich aber an die Gott» füllt der Großmächte um Hülfe und Beistand wendeten Dem Agenten Frankreichs war eine derartige Bitte na­türlich höchst willkommen. Er setzte sich sofort mit dem französischen Residenten zu Athen in Verbindung; diese ließ auf der Stelle den Kriegsdampfer „Solen" nach Candia abgehen; griechische Piraten und Speculanten verschafften den lieben Stammesgenoffen auf der Insel Waffen und Munition aus Hellas: kurz, es war so herrliche Aussicht auf eine neue, „europäische Frage" vorhanden, daß die Pforte um jeden Preis nachzugeben beschloß, um sich nur fernere Interventionen zu erspa- ren. Großherrliche Sendboten versprachen Abhülfe; und am 7. Juni erschien Ahmed Pascha mit einer kaiserlichen Proklamation, welche den Christen gestat­tete Waffen zu tragen, die Aufrechthaltung des Hathu- mayum verhieß, eine Herabsetzung mehrerer Steuern und insbesondere eine gerechtere Vertheilung der Con- scrtptionsabgaben, so wie die Bestrafung aller schuldigen Beamten gewährleistete und die Gerüchte von der beab­sichtigten Einführuna einer zwanzigprocentigen Bermö genssteuer dementirte. Gleich darauf ward der verhaßte Bely Pascha abberufen und durch den bisherigen Un­terrichtsminister Sami Pascha ersetzt. Kaum jedoch war dies Gewitter durch einen nothdürftigen Compro- mtß verscheucht, als die Nachricht von dem scheußlichen Gemetzel in Dscheddah in Europa anlangte. Am 15. Juni war dort eine Scene vorgefallen, die so recht deutlich zeigte, was die Westmächte unter der vielge rühmten Aufnahme der Pforte in das europäische Con- cert eigentlich verstanden. Ein in dem erwähnten ara­bischen Hafen liegendes Schiff, das zwei Brüdern, Un- terthanen Englands aus Ostindien gehörte, war in ürkischen Besitz übergegangen; und der neue.Etgen- thümer hatte demgemäß die britische Flagge durch dic ottomantsche ersetzt. Der Gouverneur Namik Pascha, als Beherrscher der drei heiligen Städte des Islam, Mekka, Medina und Dscheddah, Einer der ersten Wür­denträger der Pforte, entschied, da sich ein Streit über die Rechtmäßiukeit des Verkaufsakts erhoben, für des­sen Giltigkeit. Der englische Consul Page aber be­rief einige seiner Nationalen zu einem sogenannten Konsulatsgerichte und verlangte die sofortige Herab­nahme der türkischen Flagge, da dies Tribunal sich tm entgegengesetzten Sinne aussprach. Nun bedenke man, daß Sir ^ohn Bowring dritthalb Jahre früher Canton zusammengeschoffen, blos weil Mandarin Ieb sich unterstanden, von einer völlig widerrechtlich dena- turalisirtenLorcha die englische Flagge herunterzunehmen. Mr. Page jedoch begab sich— Angesichts der vielen Tau­sende von Pilgern, die eben damals auf ihrer Wallfahrt nach Mekka in Dscheddah Station gemacht; zu einer Zeit, wo den ganzen Orient bereits die tiefste Aufregung wegen der aus Europa hinüberklingenden Gerüchte durch­zuckte; unbekümmert um das Verdikt Namik Paschas- der vielleicht nach dem Großvezter der vornehmste Die­ner des Sultans war — ruhig an Bord des Fahrzeu­ges , ließ die Fahne des Propheten Herunterreißen und die Farben Großbritanniens aufhissen. Die Folgen waren entsetzlich: aber, ehrlich gestanden, waren sie nicht auch unvermeidlich? Der Pöbel der Stadt und der Pilgerkarawanen stürzte sich auf die westmächtli- chen CosulatSgebäude und auf die Handlungshäuser der in Dscheddah ansässigen christlichen Kaufleute, Alles plündernd und mordend, was unter seine Hände gerieth: ein Viertelhundert „Giaur's" und mehr zahlten Pa- ge's unbedachte, übermüthige Herausforderung mit dem Leben — darunter er selber, sein französischer College Eveillard sammt seiner Gattin, während die Tochter der beiden Ermordeten in einen Harem flüchtete unv

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