Pester Lloyd-Kalender 1859 (Pest)

Pester Lloyd-Kalender für das Jahr 1859 - Geschichte des Jahres

156 Geschichte des Jahres. Tag für Tag die gleiche „Unachtsamkeit" beging, ohne sich um das „Bedauern deö Kaisers" im mindesten zu kümmern. Die Presse begrüßte daher die Bill als „die algierische", als „die französische Spionir"-, als die „Kikerikt"-Bill: und die Verlesung der Note vom 6. Feber hatte im Parlamente keine andere Wirkung, I als daß von allen^Seiten homerisches Lachen und laute „Ho ! ho !" ertönten. Dazu kam eine große Unvorsich­tigkeit von Seiten des Premiers. Während er alle seine Anhänger, alle Schwankenden hätte um sich zu railliren suchen sollen, brachte er eben jetzt am 12. seine indische Bill ein, welche die Regierung der eng­lischen Besitzungen in Ostindien der Krone übertrug und die Compagnie aufhob. Damit stieß er, obschon eine solche Bill aus Anlaß der Seapoymeuterei seit lange er­wartet ward, mächtige und zahlreich vertretene Inter­essen bet den Gemeinen vor den Kopf und schuf sich im ungelegensten Augenblicke eine Schaar neuer Wider­sacher, wie denn auch die Bill nicht vor dem 18., nach einer für dies Stadium der Verhandlungen ganz unge­wöhnlich heftigen und langen Debatte, die zwei Mal vertagt werden mußte, zur ersten Lesung zugelassen ward. Das Kabinet hatte zu viel auf Ein Mal un­ternommen und sich über die tbm innewohnende Lebens­kraft getäuscht. Bei der Berathung über die zweite Lesung der Mordverschwörungsbill nahmen am 19. Fe­ber 234 gegen 215 Stimmen das von Milner Gibson gestellte Amendement an; „das Haus sei über solche Attentate, wie das vom 14. Jänner, mit Abscheu er­füllt und werde jederzeit bereit sein, dergleichen ver­brecherische Unternehmungen, wenn sie gehörig erwiesen würden, zu bestrafen; doch bedauere es, daß die Regie­rung nicht, ehe sie dem Hause die vorliegende Bill zur Erwägung übergeben, vorher die Depesche der französischen Regierung vom 20. Jänner beantwortet und dem Hause die Antwort vorgelegt habe." End­loser, stürmischer Jubel, wie ihn die Mauern von West- minsterhall seit lange nicht gehört, von den Opposittons- bänken begrüßte die Verkündung dieses Resultates. Schon am folgenden Tage reichte Lord Pakmerston seine Entlassung ein und Lord Derby ward von der Königin mit der Bildung eines neuen Kabinetts beauftragt. Allerdings hatte es für die Tories seine Schwierigkei­ten, eine einigermaßen homogene Verwaltung zu Stande zu bringen: doch die Versuche Palmerston's, das so entstehende Interimistikum zu seinem Nutzen auszubeu- ten, blieben erfolglos. Umsonst berichtete Lord Cowley am- 20. aus Paris: er sei durch Privatanweisungen des Premiers in den Stand gesetzt gewesen, die Antwort auf die französische Note vollständiger zu ertheiken, als dies in amtlicher Form thunlich gewesen wäre; und habe demzufolge eine Verletzung des Asylrechtes als des großen Prinzipcs der britischen'Verfassung für un­möglich erklärt, sowie andererseits nachgewiesen, wie völlig machtlos ein Parlamentsgcsetz sein würde, wenn cs sich darum handle, verzweifelte Charaktere von ver­zweifelten Unternehmungen abzuhalten. Nicht minder | vergeblich war, daß der englische Gesandte drei Tage später in einer zweiten Depesche dem Grafen Claren­don das Bedauern des Grafen Walewski über das Miß- verständniß seiner Forderungen, sowie dessen Erstaunen darüber mitthetlte, daß seine Note eine so falsche Ausle­gung gefunden habe. Am 26. legte das neue Kabinet, in dem unter Derby's Präsidium D'Jsraeli die Finanzen, Graf Malmesbury das Aeußere, Walpole das Innere und Thesiger, als „Lord Chelmsford", das Amt des Lord­kanzlers übernahm, den Eid in die Hände der Königin ab; und am 1. März verkündete der Premier im Ober­hause das Programm der neuen Regierung dahin: dieselbe wolle Freundschaft mit Frankreich und habe nicht die Verschwörungsbill an sich, sondern nur die Nichtbeantwortung der Walewski'schen Depesche geta­delt; wettere Maßregeln mache sie von der Antwort abhängig, die sie aus Paris auf die Anfrage um eine Declaration der Jännernote erhalten werde; bis da­hin wolle sie die Verschwörer sorgfältig überwachen. Die betreffende Anfrage des Earl Malmesbury war bereits den Tag vorher nach Paris abgegangen. Sie war ganz in dem Sinne des Derby'schen Programmes abgefaßt; und am 4. folgte ihr eine zweite Depesche aus derselben Feder, worin Lord Cowley angewiesen ward, zu erklären: das Ministerium wolle die Auf­rechthaltung der Allianz und wünsche eine Ausglei­chung des obschwebenden Mißverständnisses durch eine nähere Auslassung von Seiten Frankreichs. Auf die erste jener Noten erwiderte Lord Cowley am 8. März, Graf Walewski habe gesagt, wett entfernt, eine Be­schuldigung gegen die britische Nation erheben zu wol­len, habe er in dem angefochtenen Aktenstücke nur auf ein, für Frankreichs Ruhe gefährliches Treiben aufmerk­sam machen wollen, wobei er vollständig anerkenne, daß es einzig und allein Sache England's sei, über Art und Natur der anzuwendenden Heilmittel zu bestim­men. Die zweite Note wurde unter dem Datum des 11. mit der Erklärung des Grafen Walewski beant­wortet : der Kaiser der Franzosen habe nichts fordern können, was mit der Ehre Englands unvereinbar sei; der Wunsch, England möge Maßregeln gegen die Flüchtlinge ergreifen, sei nur zum Besten der Allianz beider Nationen ausgesprochen; Se. Majestät ziehe sich von der Streitfrage zurück und mache, der Freundschaft England's volles Vertrauen schenkend, keine Forde­rungen." So endete der diplomatische Schriftwechsel in dieser ernsten Angelegenheit: die Stimmung zwischen den beiden Nationen, ja auch zwischen beiden Regierungen war aber damit kaum eine ruhigere geworden. Der Kaiser betrieb die Reorganisation der französischen Flotte mit täglich steigender Energie — ein Dekret vom 20. März gestaltete den Admirakitätsrath vollständig nm und die Vervoll­kommnung der hervorragendsten französischen Kriegshä- fen, namentlich die ungeheurenBauten in Cherbourg, die England sich bald gewöhnte als den ersten Schritt zu ei ne m Jnvasionsvcrsuche zu betrachten, wmdcn mit bei

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