Pester Lloyd-Kalender 1859 (Pest)

Pester Lloyd-Kalender für das Jahr 1859 - Geschichte des Jahres

Geschichte des Jahres. Die tiefe Erschütterung des osmanischen Reiches in Folge des orientalischen Krieges , verschlimmert durch Frankreich's Streben, die Convulsionen, in welche die Unionsgelüste der Rumainen, die Wirren in Serbien, die Raubzüge der Montenegriner, die Empörung der Rajah in Bosnien, in der Herzego­wina, in Candia, so wie das Aufflackern muhameda- nischen Fanatismus in Dscheddah die Türkei gestürzt, int Bunde mit Rußland zur Begründung einer fran­zösischen Suprematie im Osten zu benutzen: das ist der rothe Faden, der sich durch alle Ereignisse des Jahres 1857 bis 1858 zieht. Enge daran schließt sich die Unruhe der napoleonischen Dynastie, die aus dem Bedürfnisse von sich reden zu machen und die eigenen Unterthauen durch den Schein einer europäi­schen Hegemonie für den Mangel an politischer Frei­heit zu entschädigen, sie von dem Nachdenken über die heimischen Zustände abzulenken, fortwährend „euro­päische Fragen" auszusinnen trachtet und namentlich die Pariser Confkrenzen zu einem permanenten Areo- pagc zu erheben wünscht. Daher die dritte Zu­sammenkunft der Pariser Conferenz zur Entwerfung der Fürstenthümerkonvention; daher die Constan- tinopler Conferenz zur Regulirung der montenegri­nischen Grenze ; daher die, aus Anlaß der „freien Negerauswanderung" entstandenen Konflikte mitEng- land wegen der „Regina Coeli", mitPortugalwegendes „Charles Georges"; daher die Streitigkeiten über die Donauschifffahrtsakte,die Frankreich gar zu gerne in ein Instrument zur Erterritorialisirung des Stromes, zu einer Aufhebung der Souverainetät der Uferstaaten über denselben ausbeutcn möchte, um ihn dann unter die ausschließliche Kontrolle der Pariser Konferenz zu bringen; daher das zeitweilige Kokettiren mit Ita­lien. Das Zünglein der Wege schwankt dabei hin und her, je nachdem England sich mehr oder weniger nachgiebig erweist, und je nachdem die innere Lage des Kaiserreichs selber dem Letzteren ein mehr oder weniger energisches Auftreten gestattet. Um daher die europäische Situation zu verstehen, darf man Asien keinen Augenblick aus dem Gesichte verlieren. Auf den Gefilden von Oude und Centralindien entscheidet sich die Widerstandskraft, die Großbritannien in Con- stantinopel und anderwärts den imperialistischen Plä­nen cntgegenzusetzen vermag: und jeder Sieg über die meuterischen Seapoys vor den Thoren Delhis und Lucknow's übt eine unverkennbare Rückwirkung am Goldenen Horné und an der unteren Donau, in den Tuilerien und in Downingstreet aus, so wie die Nach­richt davon in Triest, Marseilles oder Malta ange­langt ist. Asien beginnt ein um so wichtigerer Faktor in der Geschichte unseres WelttheileS zu werden, als mit dem indischen Aufstande nnd dem Wiederhalle, den er in den Kabineten der Großmächte findet, dir Versuche zur Ausschließung der hinterasiatischen Reiche Hand in Hand gehen.. Während vor Canton und Peking die vier ersten Seemächte, England, Frankreich, Rußland und Nordamerika sich Rendez­vous gegeben; während sie zugleich laut und-ver­nehmlich au die Thore Japan's pochten: treten Frank­reich und England mit Siam in diplomatische Verbin­dung ; bekriegen Frankreich und Spanien Cochinchina. Aber ein zweiter, nicht weniger wichtiger Faktor für den Gang der europäischen Politik ist die innere Lage Frankreichs, oder, um bestimmter zu sprechen, die Lage der napoleonischen Dynastie. Denn sie gibt den Maß- ftab ab für die chronischen Wendungen und Krisen des anglogallischen Bündnisses, dessen Gefährdung und Restaurirung jedesmal in nicht minder nachhal­tigen Schwingungen durch die gesammte haute- politique vibrirt. Drei weitragcnde Merksteine treten uns hier entgegen. Am Anfänge des Jahres Orsini's Attentat mit seinen Folgen, dem Sturze Palmerston's, der Ambassade Pelissier's, dem Trium­phe der Tories, die, gezwungen sich im Parlamente auf die Liberalen zu stützen, die Judenemancipation durchsetzen, die ostindische Compagnie zu Grabe tragen, die Parlamentsreform in vielen Punkten för­dern — während in Frankreich General Despinaffe und das Sicherheitsgesetz mit unbeschränkter Auto­rität walten. Es war die Zeit, wo man von einem bevorstehenden Kriege zwischen England und Frank­reich fabelte. Um die Mitte des Jahres beherrschte die Hinüberkunst der Königin Victoria zu den Cher- bourger Festen die Situation: Alles war Friede und Freundschaft; der politische Himmel strahlte im herr­lichsten Blau; Delangle's Berufung in das Mini­sterium des Innern, die Ernennung des Prinzen Na- • polcon zum Kolonialminister erweckten die rosenro- thesten Hoffnungen der alten parlamentarischen Par­teien Frankreich's. Mit Ende des Jahres aber tritt durch den Proceß Montalembert wieder die Kehrseite der Medaille in den Vordergrund. Die französischen Liberalen sind enttäuscht; der angeklagte Graf weist die kaiserliche Begnadigung zurück „als die größte Beleidigung, die man ihm anthun könne" ; der schroffe Gegensatz kaiserlicher und britischer Institutionen drängt sich wieder so kraß hervor, daß Londoner Blät­ter in Frankreich kaum mehr zugelassen werden. Mit dem Frieden und der Freundschaft ist ei auf's neue

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